Erstellung einer Unterrichtseinheit für DAD („didattica a distanza“): Populismus und Demagogie in Der Weltuntergang und Astoria im italienischsprachigen Kontext

Ramona Pellegrino (Genua), Michaela Bürger-Koftis

Abstract:

Im folgenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, welche Merkmale des Populismus bzw. der Demagogie in Jura Soyfers Werken Der Weltuntergang (1936) und Astoria (1937) inszeniert oder auch nur angedeutet werden und welche Verbindungen sich zum aktuellen, von der Pandemie geprägten Zeitgeschehen herstellen lassen. Insbesondere wird dabei auf gesellschaftliche und politische Phänomene Bezug genommen, die zwar auch bereits vor der Corona-Krise vorhanden waren, sich aber aufgrund der derzeitigen Ängste und Unsicherheiten weiter verschärft haben, beispielsweise die Verbreitung von Fake News und Verschwörungstheorien. Außerdem wird geschildert, wie diese Parallelen im Online-Unterricht im italienischsprachigen Kontext, in dem derartige Phänomene weit verbreitet sind, didaktisiert werden können, sodass die Studierenden ein größeres Bewusstsein für Stilelemente entwickeln, die von Populisten und Demagogen verwendet werden.

Creation of a teaching unit for DAD („didattica a distanza“): Populism and demagogy in Der Weltuntergang and Astoria within an Italian speaking context

In our paper we intend to investigate on the features of populism and demagogy that are to be found in Jura Soyfer‘s plays Der Weltuntergang (1936) and Astoria (1937) and to point out to which extent they are to connected with the current events of the Pandemic. In particular, we shall refer to social and political phenomena, such as fake news and conspiracy theories, that did exist already before the Corona crisis but have worsened due to the present general climate of anxiety and insecurity. Furthermore, we shall describe how these phenomena, quite present also in Italian society and politics, may be applied for didactic purposes within the Italian speaking context in order to increase amongst students a larger consciousness for such linguistic and communication patterns used also by today’s populists and demagogues.

Einführung

Im folgenden Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie Demagogie und Populismus in Jura Soyfers Werken Der Weltuntergang (1936) und Astoria (1937) Ausdruck finden, welche Verbindungen sich zum aktuellen, von der Pandemie geprägten Zeitgeschehen herstellen lassen und schließlich wie diese Parallelen im Online-Unterricht im italienischsprachigen Kontext didaktisiert werden können.

Bevor wir uns der Auseinandersetzung der in diesem Zusammenhang ausgewählten Textstellen widmen, soll zunächst erläutert werden, was unter „Populismus“ und „Demagogie“ verstanden werden kann:

Populismus ist, erstens, vor allem ein Instrument des Machterwerbs, wobei dieses Instrument untrennbar mit einer Art „ideologische[m] Minimum“ verbunden ist. Dazu gehört eine klare Frontstellung zwischen den als korrupt und abgewirtschaftet gebrandmarkten Eliten und dem von ihnen gegängelten „Volk“ sowie – damit verbunden – die anti-intellektuelle Berufung auf einen angeblichen Volkswillen und einen postulierten „gesunden“ Menschenverstand. Dazu gehört ein moralisierendes Verständnis von richtig oder falsch, gut oder böse, und dazu gehört ein Politikstil, der auf „Institutionenfeindschaft und Anti-Pluralismus sowie auf Polarisierung und Personalisierung“ setzt. Protest und der Kampf um „Identität“ durch die „Abwertung der ‚Anderen‘“ gehen dabei oft Hand in Hand […].1

Obwohl es sich bei Populismus um kein uniformes Phänomen handelt – der Rechtspopulismus unterscheidet nicht nur zwischen „Elite“ und „Volk“, sondern definiert das Volk vor allem auf ethnischer Ebene als homogene Einheit, indem der Gegensatz zwischen dem idealisierten „Wir“ (z.B. „den Italiener*innen“) und „den anderen“ (z.B. „den Migrant*innen“) radikalisiert wird, was eine eher seltene Dichotomie im Linkspopulismus darstellt2 –, lassen sich trotzdem weitere gemeinsame, für den Populismus typische Merkmale feststellen, beispielsweise „die Hinwendung zur direkten Demokratie, […] die Forderung einfacher Lösungen für komplexe Themen, […] die Neigung zu charismatischem Leadership und der Anspruch, das Volk in seiner Gesamtheit zu vertreten.“3

Eng damit verbunden ist der Begriff „Demagogie“, der eigentlich ursprünglich neutral bis positiv konnotiert war, sodass unter „Demagoge“ einfach ein sehr erfolgreicher Politiker zu verstehen war. Die Bedeutung des Begriffs wandelte sich allerdings im Laufe der Zeit so weit, dass er inzwischen eine äußerst negative Konnotation hat4 und eng mit Populismus zusammenhängt: Während Populismus ein Phänomen des politischen Handelns ist, kann Demagogie als ein Instrument des Populismus verstanden werden, das auf sprachlicher Ebene agiert und sich durch „Manipulation, Propaganda, Verführung“5 auszeichnet.

In den folgenden Abschnitten werden einige signifikante Textstellen aus Jura Soyfers Der Weltuntergang und Astoria behandelt, in denen Merkmale des Populismus bzw. der Demagogie inszeniert oder auch nur angedeutet werden, und stets in Verbindung mit verschiedenen aktuellen, durch die Corona-Krise verschärften Phänomenen (Fake News, Verschwörungstheorien, gesellschaftlichen Ausschreitungen, funktionalem Analphabetismus) gebracht. Dadurch soll vorgeschlagen werden, aus welcher Perspektive sich Studierende aus Italien mit den hier behandelten Texten auseinandersetzen könnten, insbesondere im Rahmen der sogenannten DAD (kurz für „didattica a distanza“, wörtlich Übersetzt: „Fernunterricht“), ein Schlagwort, das mit dem im deutschsprachigen Raum auch zum Modewort gewordenen Homeschooling verglichen werden kann. Aufgrund der fortdauernden Beschränkungen durch die Corona-Maßnahmen scheint es mehr als erforderlich, einerseits Texte zu behandeln, die das Nachdenken anregen, andererseits das Potential der Online-Didaktik zu beleuchten, da sie realistisch betrachtet den Unterricht in den nächsten Monaten – wenn nicht sogar Jahren – wesentlich mitbestimmen wird.

Der Weltuntergang

In Zeiten einer globalen Krise, die in diesem Fall durch eine Pandemie ausgelöst wurde und sich auf allen Ebenen unseres Lebens auswirkt, ist es verhältnismäßig einfach, Verbindungen zu Jura Soyfers erstem Drama herzustellen, das als Warnung vor dem Krieg geschrieben wurde und als eine Art Verhaltensstudie der Menschheit vor der Apokalypse betrachtet werden kann. Ungewissheit, Angst, Frustration und weitere Gefühle, die wir heutzutage erleben, ja sogar die Tatsache, dass diese (vor allem in den sozialen Netzwerken) oft durch Witz und Humor verarbeitet werden, finden sich mehrfach in Soyfers Werk wieder. Auch in Der Weltuntergang geht es in gewisser Weise um eine „Krankheit“, die den gesamten Planeten umfasst, wobei allerdings nicht die Menschen, sondern die Erde selbst erkrankt, und die Ursache dieser Erkrankung im Menschen, der die Rolle des Virus übernimmt, liegt:

MOND: … also die Erde hat… (greift sich an den Kopf und macht die Bewegung, eine Laus zu fangen)… sie hat… wie nennt man das nur… MENSCHEN hat sie!“6).

Dass in der aktuellen Pandemie trotz medizinisch belegter Daten die Gefahren des Virus dennoch unterschätzt, wenn nicht sogar geleugnet werden, ist erschreckend. Vor allem zu Beginn der Corona-Krise gab es zahlreiche Leugner*innen nicht nur in der Zivilgesellschaft sondern auch innerhalb der italienischen Politik7 und sogar in den Kreisen der Spitzenpolitik, man erinnere sich dabei an die Äußerungen des noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump.8 In dieser Hinsicht erscheint folgender Satz, der dem Führer in den Mund gelegt wird, als Guck erfolglos versucht, ihn von dem Weltuntergang und von einer möglichen Lösung zu überzeugen, geradezu prophetisch:

FÜHRER. […] Guck, Sie sind des Staates öffentlicher Stolz Nummer zwo! Der Weltuntergang ist eine völkische Erfindung! (GW, 75)

Bereits in der ersten Corona-Welle wurde die Rolle von Wissenschaftler*innen sowie von Ärzt*innen und medizinischen Expert*innen von der Politik und Gesellschaft zwar mit Worten gewürdigt, gleichzeitig wurde ihren Aufrufen aber nicht gebührend Aufmerksamkeit beigemessen, was dazu führte, dass sie ungehört blieben. In Jura Soyfers Drama versucht der Gelehrte vergeblich, das Ausmaß der Gefahr zu verdeutlichen, während der Führer engstirnig auf ein ihm un- bzw. wohlbekanntes Wort beharrt („Menschheit“ und „Massenhinrichtung“), anstatt die tiefste Bedeutung dessen zu verstehen, was Guck ihm mitteilen möchte:

GUCK: Ich glaube, Sie ermessen nicht ganz die Bedeutung meiner Erfindung. Der Komet wird uns alle zerschmettern.

FÜHRER: Zum Zerschmettern bin ich da!

GUCK: Aber die ganze Menschheit –

FÜHRER: Menschheit? Kenn‘ wa nicht!

GUCK: Eine Massenhinrichtung –

FÜHRER: Kenn‘ wa schon. (GW, 75)

Im Verhalten des Führers lassen sich Aspekte des funktionalen Analphabetismus erkennen, ein Phänomen, das in den europäischen Gesellschaften besorgniserregende Ausmaße erreicht hat (in Deutschland sollen rund 6,2 Millionen9 und in Österreich 600.00010 erwachsene Menschen davon betroffen sein, in Italien sogar 28% der Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren11, was etwa 16 Millionen Menschen entspricht). Funktionale Analphabeten verstehen zwar die Bedeutung einzelner Wörter, aus denen ein verhältnismäßig einfacher Text besteht, können allerdings den Sinn des Textes entweder gar nicht oder nicht ausreichend erfassen,12 was sich nicht nur auf den Alltag der Betroffenen sondern auch auf die gesamte Gesellschaft verheerend auswirkt: Wer nicht in der Lage ist, sich kritisch mit Inhalten auseinanderzusetzen, den tiefen Sinn einer Äußerung zu erkennen und Schlagwörter oder Schlagzeilen kritisch zu hinterfragen, ist weitaus stärker der Gefahr ausgesetzt, sich von Fake News13 täuschen und von Demagogen, die derartige Kommunikationsmittel verwenden, beeinflussen zu lassen. Bereits während der ersten Welle der Corona-Pandemie ist dieses Risiko besonders in Italien in den Fokus gerückt, da tagtäglich als Nachrichten getarnte Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, sei es, um den Menschen falsche Hoffnungen zu machen, um sie in Panik zu versetzen, oder um sie gegeneinander aufzuhetzen.

Der von den sozialen Medien geförderte funktionale Analphabetismus führt dazu, dass Betroffene nicht in der Lage sind, zwischen wissenschaftlich fundierten Quellen und Fake News zu unterscheiden, was wiederum Leugner*innen und Verschwörungstheoretiker*innen in die Hände spielt. Anspielungen auf Verschwörungserzählungen und -theorien lassen sich auch in folgendem Abschnitt erkennen. Guck reagiert erschrocken, als der Führer behauptet, der Komet sei von „Weltjudentum, Freimaurerei und Bolschewismus“ (im italienischsprachigen Kontext wären das Paradebeispiele für „poteri forti“, d.h. nicht weiter definierte „starke Mächte“, von denen in den Kreisen der Verschwörungsgläubigen oft die Rede ist) geschaffen worden. Obendrein widerspricht sich der Führer dabei, da er kurz zuvor behauptet hat, es gäbe gar keinen Weltuntergang. Guck versucht, Vernunft und wissenschaftliche Beweise den Wahnvorstellungen des Führers entgegenzusetzen, was allerdings erfolglos bleibt, denn der Despot beschuldigt ihn, eine „parteiische“ Wissenschaft zu vertreten:

FÜHRER: Bloß kein liberalistisches Gequassel! Weltjudentum, Freimaurerei und Bolschewismus haben einen Kometen entsandt: einerseits, um die Welt gleichzeitig zu vernichten und zu beherrschen, andererseits, um unser Volk durch fremdplanetarische Einflüsse zu zersetzen.

GUCK (erschrocken): Ich weiß nicht recht… Ich befasse mich nur mit Physik.

FÜHRER (drohend): Aber doch nicht mir jüdischer Physik? (GW, 75)

Dass Wissenschaft parteiisch sei, klingt absurd, trotzdem basieren einige Verschwörungstheorien, die monatelang in Italien kursierten und die auch durch die Stellungnahme einiger Politiker*innen geschürt wurden, auf diesen Gedanken. Eine der am weitesten verbreiteten Theorien, nach der das Corona-Virus künstlich in einem chinesischen Labor als Biowaffe erzeugt worden sei,14 wurde unter anderem von Donald Trump während seiner Amtszeit als US-Präsident15 und in Italien von den rechtspopulistischen Parteichefs Matteo Salvini (Lega) und Giorgia Meloni (Fratelli d’Italia) bekräftigt.16 Dass derartig unglaubwürdige Nachrichten trotzdem Anklang finden, liegt auch teilweise daran, dass diese Politiker*innen über eine große Eloquenz verfügen.

Die Sprachgewandtheit der Demagogen ermöglicht es ihnen oft, Auseinandersetzungen ungeachtet mangelnder Kompetenzen und dessen, dass Wissenschaftler*innen und Expert*innen nachgewiesene Beweise entgegenbringen können, trotzdem für sich zu entscheiden. Beispielsweise verweist Guck auf die Gesetze der Physik und verwendet dabei die in diesem Kontext angemessene Wissenschaftssprache, während der Führer sie zu einer vereinfachten Umgangssprache herabstuft. Durch seinen autoritären Ton, die Einschüchterungen, die stetigen Unterbrechungen und die Abwertung der wissenschaftlichen Autorität gelingt es dem Führer, den Streit für sich zu gewinnen:

GUCK (fassungslos): Jüdische Physik? Ja, gibt’s denn das? Was sagt da die moderne Physik? Daß der Weltraum gebogen –

FÜHRER (mit einer Bewegung zur Nase): Sehen Sie!

GUCK: Die Zeit ist relativ – tausend Jahre –

FÜHRER: Was ist mit unseren tausend Jahren?

GUCK: Die können unter Umständen auf ein Jahr zusammenschrumpfen.

FÜHRER (wütend): Und wovon hängt das ab?

GUCK: Von der Bewegung.

FÜHRER: Von welcher Bewegung? Im Reich ist nur –

GUCK (zögernd): Ich meine die andere Bewegung.

FÜHRER: Sehen Sie, glatter Hochverrat!

GUCK: Und die Planetenbahnen –

FÜHRER: Was ist mit den Planetenbahnen?

GUCK: Die sind elliptisch.

FÜHRER: Auf deutsch: geschneckert.

GUCK: Die Anziehungskraft –

FÜHRER: Die ist, physikalisch gesehen, (zögernd) fast null.

FÜHRER (brüllend): Null!!!?

GUCK: Und die Fachausdrücke? Rotazion, Gravitazion – Inklinazion (erschrocken) – zion – zion – zion.

FÜHRER (triumphierend): Sehen Sie! Geben Sie jetzt zu, daß der Weltuntergang erfunden wurde, um uns einzukreisen?

GUCK: Das ist – das ist – vielleicht übertrieben gesagt.

FÜHRER: Übertrieben? Ich degradiere Sie vom Reichswärmeleiter zum gewöhnlichen Reichsbürger, und vom Reichsbürger zum Staatsangehörigen. Als solchem donnere ich Ihnen zu: Hinaus! (Während Guck abgeht.) (GW, 75f)

Die Verbreitung von Fake News, die oft auf einer falschen bzw. willkürlichen Interpretation von wissenschaftlich belegten Daten beruhen, kann sogar zu Protesten und sozialen Unruhen führen, man denke dabei an die Demonstrationen der Pandemie-Leugner*innen gegen die Corona-Maßnahmen, die bereits während der ersten Welle in ganz Europa stattfanden und weiterhin angemeldet werden.17 Auch in Jura Soyfers Der Weltuntergang finden sich Anspielungen auf soziale Unruhen, die durch die bevorstehende Katastrophe entstehen, sowie auf ein weiteres, vor allem in den USA aktuelles Thema, und zwar ungerechtfertigte Polizeigewalt:

ERSTE MODEDAME (von links, entziffert Zeitung): „Neuaufkeimende Unruhen in der Bevölkerung wegen Näherkommen des Kometen.“

ZWEITE (von rechts, entziffert Zeitung): „Gerüchte über Machtlosigkeit der Kometenabwehrmänner bei bevorstehendem planetarischen Zusammenstoß.“

ERSTE: „Zusammenstoß zwischen Kometenabwehrmännern und Demonstranten.“

ZWEITE: „KW.-Männer jagen Demonstranten in die Flucht und beweisen so schlagend ihre Verwendbarkeit für Zusammenstöße.“ (GW, 76)

Wie aus dem Zitat hervorgeht, ist die Zeitung die einzige Informationsquelle der beiden Modedamen sowie der anderen Protagonist*innen des Dramas, was von Astorias fiktiven Regierung systematisch ausgenutzt wird. In einer anderen Textstelle geht es vermehrt darum, wie die Presse als Propagandaorgan eingesetzt wird, um die Menschen zu beeinflussen (insbesondere diejenigen, die als funktionale Analphabeten bezeichnet werden können) und Macht auszuüben, wie die Geschichte immer wieder zeigt:

ERSTER WIENER (von links, Zeitung entziffernd): „Die Notwendigkeit, sich gegen einen Kosmos von Feinden verteidigen zu müssen, hat das Reich zu beschleunigtem Ausbau seiner Wehrhoheit veranlaßt. Dies hatte zur Folge, daß die deutsche Arbeitslosigkeit von 2 Millionen um weitere 4 Millionen sank, so daß das Reich nur mehr 5 Millionen Arbeitslose zählt.“

ZWEITER WIENER (von rechts, [Zeitung entziffernd]): „Das deutsche Propagandaministerium teilt mit: Der Weltuntergang wird die ganze Welt treffen mit Ausnahme jedoch des Reiches und der ihm geraubten Kolonien. Den diesbezüglichen Rettungsplan verwahren wir vorläufig wohlweislich in der Schublade.“ (GW, 79)

Die beiden Protagonisten, die untereinander eine dialektal bestimmte Umgangssprache und zwar die regionale Varietät des Wienerischen verwenden (siehe folgende Textstelle) und dadurch als Durchschnittsmenschen dargestellt werden, sind von den widersprüchlichen Daten verwirrt. Sie erkennen weder ihre Implikationen noch ihre Widersprüchlichkeit und interpretieren die Texte letztendlich so, dass sich trotz des drohenden Untergangs eine positive Botschaft herauskristallisiert:

ERSTER: Habe die Ehre, Herr Meyer!

ZWEITER: Habe die Ehre, Herr Meyer!

ERSTER: Hern S‘, i versteh das net.

ZWEITER: I a net. Aber die Preißen, die verstenan’s scho.

ERSTER: Is ja logisch. Die wissen immer, was s‘ machen.

ZWEITER: Da ham S‘ recht.

ERSTER: Aber andrerseits, schaun S‘ her: „Das Pariser physikalische Institut hat berechnet, daß der Weltuntergang den ganzen Planeten treffen wird, mit Ausnahme jedoch der Französischen Republik und ihrer Kolonien.“

ZWEITER: Da ham S‘ recht.

ERSTER: Is ja logisch. Aber andrerseits, schaun S‘ her: „Das Londoner physikalische Institut hat berechnet, daß der Weltuntergang den ganzen Planeten treffen wird, mit Ausnahme jedoch des Britischen Empires.“

ZWEITER: Da ham S‘ recht.

ERSTER: Aber alle drei kennen do net auf amal recht ham.

ZWEITER: Da ham S‘ recht.

ERSTER: Is ja logisch. Übrigens, ham S‘ g’lesen – wo steht das nur – „Der Weltuntergang hat zu einer erfreulichen Belebung des Fremdenverkehrs geführt. Unsere Plakate Den Hermannskogel sehen – und dann sterben haben in allen Weltstädten ihre Wirkung getan. Alle böswilligen Gerüchte, denen zufolge der Weltuntergang auch uns betreffen wird, verweisen wir lächelnd ins Reich der Fabel. Der Weana geht nicht unter.“

ZWEITER: Da ham S‘ recht. I sag ja alleweil! Es geht aufwärts!“ (GW, 79f)

Die Wiederholung belangloser Phrasen („Is ja logisch“, „Da ham S‘ recht“) verdeutlicht, dass die Protagonisten nicht in der Lage sind, die Manipulation, die durch das vom Propagandaministerium gesteuerte Medium durchgeführt wird, zu durchschauen. Die Krise wird vielmehr als gegenbildlich positiv gedeutet, wodurch die Zustimmung zu den Machthabenden wächst.

In dieser Hinsicht lässt sich leicht eine Parallele zur italienischen Politiklandschaft der 1990er Jahre, die vom Politiker und Unternehmer Silvio Berlusconi stark geprägt wurde, herstellen. Durch äußerst simple und emotional geladene Reden und Slogans („L’Italia è il Paese che amo“ / „Italien ist das Land, das ich liebe“, „Meno tasse per tutti“ / „Weniger Steuern für alle“) schaffte es Silvio Berlusconi, die Wähler*innen mehrmals für sich zu gewinnen, auch aufgrund dessen, dass er sich als Durchschnittsbürger inszenierte, sodass sich jeder bzw. jede Italiener*in mit ihm identifizieren konnte („Ich vertrete die Interessen von allen, auch meine eigenen, weil ich einer von allen bin.“18)

Als Demagoge schlechthin wusste er von Anfang an, „mit den Ängsten der Wählerinnen und Wähler ebenso skrupellos zu spielen wie aus politischem Kalkül Tabus zu brechen und situative Taktik über langfristige Strategie zu stellen“19, wodurch er wesentlich zur Delegitimierung der Institutionen beitrug und den Boden für politische Kräfte bereitete, die radikaler als seine Partei(en) sind. Seitdem Silvio Berlusconi im Jahre 1994 erstmals zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, haben nämlich Gruppierungen, die gewiss als populistisch eingestuft werden können, eine derart relevante Rolle eingenommen, „dass der Populismus – und ausdrücklich nicht nur der Rechtspopulismus – in Italien inzwischen zu einer prägenden politischen Kraft geworden ist, der als Mobilisierungsinstrument und Organisationsform über die Mitglieder der eigenen Parteifamilie hinaus stilbildend wirkt, politische Mitbewerber unter Druck setzt sowie Tonlage und Inhalte der öffentlichen Debatte wesentlich mitbestimmt.“20

Silvio Berlusconis Rolle im Aufstieg des Populismus ist größtenteils durch den Niedergang der traditionellen Parteien Anfang der 1990er Jahre zu erklären. Nachdem sich in den Jahren 1990-1994 der Zusammenbruch des aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Parteiensystems vollzog, gab es bis 2013 eine labile und fragmentierte Bipolarität, die schließlich zur Phase der populistisch orientierten Transformation führte. Mit dem Sieg der Fünf-Sterne-Bewegung (Movimento 5 Stelle) – keine traditionelle Partei, sondern eine personenzentrierte Bewegung, die von Komiker und Showman Beppe Grillo gegründet wurde und sich einer Rechts-Links-Verortung entzieht aber dennoch als populistisch eingestuft werden kann – und der rechtspopulistischen Lega, die zu Zeiten Berlusconis mit Umberto Bossi, seit 2013 mit Matteo Salvini eine charismatische Führungsfiguren fand, erreichte dieser Wandel bei den Parlamentswahlen 2018 seinen (vorläufigen) Höhepunkt.21 Bei der Europawahl 2019 verlor die Fünf-Sterne-Bewegung zwar massiv an Stimmen, die Lega verzeichnete aber einen deutlichen Stimmenzuwachs.22 Besonders die Lega nahm die Kommunikationstechniken von Silvio Berlusconi (u.a. die Verwendung von einer einfachen Sprache und emotionalen Schlagwörtern) auf und verschärfte sie noch weiter (durch derbe Ausdrücke und politische Unkorrektheit, die insbesondere gegen Ausländer*innen, Angehörige der LGBTQ-Gemeinschaft und Anhänger*innen anderer Glaubensrichtungen – vor allem des Islams – gerichtet ist): „‚Tabubrüche, Provokationen und Vulgarität‘ sind an der Tagesordnung.“23

Berlusconis Einfluss auf die italienische Gesellschaft und Kultur ist dagegen mit seinem Medienimperium verbunden, zu dem einige der wichtigsten Fernsehsender Italiens gehören (das Medienunternehmen des Berlusconi-Konzerns Fininvest, Mediaset, stellt die größte Konkurrenz des staatlichen Fernsehens RAI dar); der Politiker ist außerdem Mehrheitsaktionär bei Mondadori und Einaudi, zwei der wichtigsten Verlagshäuser Italiens, sowie bei mehreren kleinen Verlagen, u.a. Sperling&Kupfer, Le Monnier, Edizioni Frassinelli usw.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kontrolle der oben erwähnten Medien das Wahlergebnis zugunsten von Silvio Berlusconi seit den 1990er Jahren stark beeinflusst hat.24 Vor allem das Fernsehen ermöglichte ihm nicht nur, einen großen Einfluss bei politischen Wahlen auszuüben (seine Partei Forza Italia machte fast ausschließlich im Fernsehen Propaganda); es kann sogar behauptet werden, dass sich die Demokratie durch Silvio Berlusconi zu einer Videokratie25 bzw. zur Medienherrschaft entwickelte, d.h. zu einem Phänomen, bei dem „politische Entscheidungen und Diskussionen sowie die politische Kommunikation […] nicht mehr primär von den politischen Parteien, sondern zunehmend von den Interessen der Massenmedien, jedoch ebenso von den Einflussmöglichkeiten von Politikern auf diese geprägt werden.“26 Das Fernsehen trug dazu bei, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, was wiederum Einfluss auf die Politik hatte und das Verhältnis des Publikums zu den politischen Institutionen veränderte: Politik wurde zunehmend als Gegenüberstellung von (wenn nicht sogar als Kampf zwischen) Gutem und Bösem, Gewinnern und Verlierern inszeniert.27

Auch in den Vereinigten Staaten hat sich die gesellschaftliche Krise in den letzten Jahren aufgrund der populistischen Kommunikation des noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump zugespitzt, und die aktuelle US-Gesellschaft ist stärker gespalten als je zuvor.

Donald Trump setzte seine Macht in den Medien ein, um Minderheiten und – so ähnlich wie Matteo Salvinis Lega – jegliche Form von Diversität (u.a. aus kultureller und religiöser Sicht, oder was Gendergleichheit betrifft) zu attackieren,28 und um die Wähler*innen zu beeinflussen. Wie bei Silvio Berlusconi bestand „[s]eine Kernkompetenz […] darin, die Illusion eines erfolgreichen Unternehmers zu verkaufen, nicht zuletzt, weil er meisterlich Medien manipuliert.“29 Außerdem diskreditierte Trump die Berichterstattung gegen ihn als Fake News, attackierte einzelne Journalisten und Medien persönlich30 und diffamierte die Medien pauschal als Lügenpresse, „die der Feind des Volkes sei.“31 Ihm selbst, der sich während seiner gesamten Präsidentschaft immer, und durch keine Presseabteilung des Weißen Hauses gefiltert, direkt über Twitter an seine Millionen Anhänger wandte, wurden im Rahmen von Faktenchecks seitens der Washington Post in seiner Amtszeit bis Juli 2020 mehr als 20 000 Lügen und Falschmeldungen nachgewiesen.32

Donald Trumps Anmaßungen erreichten ihren Höhepunkt bei der letzten US-Wahl, als er sich frühzeitig zum Sieger erklärte, was sogar der Sender Fox News, der Donald Trump üblicherweise unterstützte, scharf kritisierte, während andere US-Fernsehsender die Übertragung von Trumps Rede abbrachen; der Moderator des Senders CNBC erklärte sogar, „Trump verbreite Lügen, indem er behaupte, dass Millionen Stimmen nicht geprüft werden könnten.“33

Astoria (1937)

Auch im Drama Astoria, in dem zahlreiche Verweise auf die autoritärsten Formen des Populismus (vor allem auf den Austrofaschismus und den Nationalsozialismus) zu finden sind, wird die Macht der Medien insofern thematisiert, als diese den Mythos „Astoria“ verbreiten, dabei Illusionen wecken und die Öffentlichkeit durch Falschnachrichten (Fake News) beeinflussen. Ein Beispiel dafür ist der korrupte Journalist, der einen Artikel über Astoria schreibt, ohne sein Wiener Kaffeehaus zu verlassen und einfach erfindet, indem er sich von seiner Umgebung (das Café) und den Wörtern seiner Sekretärin inspirieren lässt:

SEKRETÄRIN: […] Es wäre vielleicht nicht schlecht gewesen, wenn Sie wenigstens auf ein paar Tage nach Astoria gefahren wären.

JOURNALIST: Sind Sie verrückt? Ein sechster Kontinent soll ihnen aus dem Pazifik auftauchen – und mich lockt doch keiner aus dem Café Seniorenhof!

SEKRETÄRIN: No, was aber doch?

JOURNALIST: Es wird sich schon was zusammenläppern. Schreiben Sie: Eben bahnen wir uns mit Hacke und Buschmesser einen Pfad durch die unwegsamen Dschungel von Krawonisch-Astoria –

SEKRETÄRIN: Eine Luft ist hier…

JOURNALIST: Danke für die Information. Schreiben Sie: Schwüle Tropenluftlegt sich bleischwer auf unsere Lunge.

SEKRETÄRIN: Herr Ober, einen kleinen Braunen!

JOURNALIST: Danke. Ein Farbiger von pygmäenartigem Wuchs tritt uns entgegen – (GW, 167)

Der Journalist ist lediglich am Profit interessiert und hält es nicht für ethisch notwendig, einen wahrheitsgetreuen Bericht zu verfassen. Somit geht er auch nicht auf Hupka ein, als dieser der Presse mitteilen möchte, dass es Astoria gar nicht gibt:

HUPKA: Herr Redakteur, ich möchte Sie um die Publikation einer sehr wichtigen Nachricht bitten.

JOURNALIST: Sehr wichtig? Schon gefährlich. Aber bitte, wenn Sie in der Montagnummer ganzseitig inserieren…

HUPKA: Es handelt sich, bittschön, nicht um ein Inserat, sondern darum, daß Astoria nicht existiert!

JOURNALIST: Für so eine fette Lüge müssen Sie schon drei Inserate aufgeben.

HUPKA: Aber das ist wahr.

JOURNALIST: Wahr? Na, das kostet noch viel mehr! Das werden Sie gar nicht bezahlen können, Herr. Einigen wir uns vielleicht auf eine Lüge mittleren Formats. Das könnte ich Ihnen schon für zwei dreispaltige Inserate bieten.

HUPKA: Aber es handelt sich nicht um Inserate in dem Fall!

JOURNALIST: Was heißt: in dem Fall? Es handelt sich immer um Inserate. (Ab.)

HUPKA: Aber Herr Redakteur. Astoria existiert nicht! (GW, 168)

Die Massen möchten unbedingt an Astoria glauben, da dessen fiktive Regierung mithilfe der von ihr beeinflussten Medien die Utopie eines Landes geschaffen hat, in dem es keine Arbeitslose, Kranke und Hungernde gibt:

PISTOLETTI: […] „Unter sämtlichen Staatsbürgern von Astoria befindet sich derzeit nicht ein einziger Arbeitsloser.“ […] „Nicht ein einziger Astorier ist krank, nicht ein einziger hungert. Die Säuglingssterblichkeit in Astoria beträgt null Komma null.“ (GW, 155)

Auch in diesem Fall könnte eine Parallele zu Silvio Berlusconi gezogen werden: Kurz vor den Parlamentswahlen im Jahre 2001 versprach der Forza-Italia-Chef im Rahmen einer bekannten Fernsehsendung eine Million neue Arbeitsplätze,34 was völlig unrealistisch war und dennoch die Wähler*innen eroberte, denn daraufhin gewann er tatsächlich die Wahlen.

Die Darstellung des Populismus erreicht in Astorias achtem Bild (Denkmalenthüllung) ihren Höhepunkt. Der Butler James, der als „schlichte[r] Mann aus dem Volke“ (GW 172) definiert und als Karikatur eines Demagogen dargestellt wird, hält seine Rede vor den Massen und es gelingt ihm, sie in seinen Bann zu ziehen. Obwohl er zugibt, dass es Astoria nicht gibt – woraus zu schließen ist, dass das Volk bis jetzt angelogen wurde – werden all seine Aussagen, so schaurig sie auch sein mögen, mit großem Beifall begrüßt:

JAMES: […] Astoren! Monatelang haben die geheimen Weltmächte: Fagottismus, Vandalismus und Rohköstlertum die Meldung zu verbreiten versucht, Astoria besitze keinerlei Landfläche. Diese schamlose Lügenmeldung ist… ist… ist…

VOLK: Pfui!

JAMES: Ist wahr. (Donnernder Beifall) […] Der Großteil unserer Männer wohnt in den Kasernen verbündeter Staaten, der Großteil der Frauen in den Kantinen. Das sind insgesamt dreißig Prozent der Bevölkerung. Weitere dreißig wohnen in diversen, uns liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellten Gefängnissen. (Beifall) Die restlichen vierzig Prozent wohnen in der Welt verstreut auf fremder Erde. Wohl uns! Diese merkwürdigen Wohnverhältnisse bewahren uns vor dem größten Übel dieses Jahrhunderts, vor der Zufriedenheit! Erhobenen Hauptes fiebern wir in ewiger innerer Dynamik und Unrast der Zukunft entgegen, ob sie nun düster sein wird oder… oder… oder…

VOLK: Hooooooch!

JAMES: …oder düster. […] (GW, 173)

Auch als James mitteilt, dass Astoria lediglich ein „Staat an und für sich“ ist, mit anderen Worten ein Staat, der „von allen Nebenerscheinungen [befreit]“ und „auf den Staatsapparat [reduziert]“ ist, wird seine Rede durch „donnernde[n] Beifall“ (GW, 173f) unterbrochen.

Hupka versucht dagegenzuhalten, aber die Massen sind wie hypnotisiert und dermaßen hingerissen, dass er nicht ernstgenommen wird, obwohl er im Grunde genommen das verkündet, was James kurz zuvor zugegeben hat, und zwar dass Astoria nicht existiert. Hupkas Charisma ist allerdings nicht mit dem des Demagogen vergleichbar: Das Publikum lacht ihn aus, der Butler unterbricht ihn, zerrt ihn von der Bühne und diskreditiert ihn am Ende, indem er seinen niedrigen sozialen Status betont:

HUPKA: Glaubt mir! Astoria existiert nicht! (Schweigen. Hupka ist verwirrt.) […] So redets doch was! Warum habts denn geklatscht, wie der geredet hat… dieser Upursator… Uparsutor… Usarpeter… oder wie sagt man g’schwind? (Hier beginnen die Gäste der Ehrentribüne plötzlich zu lachen, das Lachen hallt im Volk wider und schwillt dröhnend an. Lachend packt James Hupka beim Kragen und befördert ihn mit einem Fußtritt hinaus.)

GRAF (lachend): James, wer war dieser fagottistische Hanswurst?

JAMES: Ein Vagabund. (GW, 174)

Verbindungen zwischen Jura Soyfer und unserem Zeitgeschehen im Fernunterricht

Möchte man die oben analysierten Textstellen aus Jura Soyfers Der Weltuntergang und Astoria und die damit in Verbindung gebrachten Verweise auf die italienische Politik und Gesellschaft als Unterrichtseinheit verwenden, so empfiehlt es sich, auf die Aktualität dieser Texte einzugehen. Insbesondere könnten die Studierenden die Beschäftigung mit Jura Soyfers Texten zum Anlass nehmen, um sich gezielt mit der Sprache der einflussreichsten, als Demagogen auftretenden Persönlichkeiten unserer Zeit kritisch auseinanderzusetzen (geht man auf den italienischen Kontext ein, so wären u.a. Silvio Berlusconi, Beppe Grillo, Giorgia Meloni und Matteo Salvini zu betrachten und gegebenenfalls zu vergleichen). Dabei würden vor allem die Merkmale ihrer Kommunikation, die einen populistischen Charakter aufweisen, festgestellt, erforscht und letztendlich entschärft werden.

Beobachtet man die italienische Gesellschaft, so fällt auf, dass die breite Öffentlichkeit durchaus in der Lage ist, die Absurdität so mancher Behauptungen von Populisten und Demagogen zu erkennen, sich in der Regel aber nicht kritisch damit auseinandersetzt, sondern eher den Humor betont, der durch ihren Wahn entsteht. In Kabarettvorstellungen und -sendungen oder im Internet werden die bekanntesten demagogischen Persönlichkeiten parodiert, wobei oft Wortspiele eingesetzt werden. Ähnliches lässt sich auch in einer der ikonischsten Szenen aus Der Weltuntergang finden, und zwar im Dialog zwischen der alten Jungfer und ihrem Papagei. Als dieser bestimmte Wörter in einer Form wiedergibt, die ihre Bedeutung durch Assonanz (Dank/Tank), Polysemie (krieg/Krieg) und Wiederholung der letzten Silbe (Optimist/Mist) komplett verdreht, widerspricht er auf diese Weise seinem „Frauchen“. Gerade die Kombination von zuversichtlichen Äußerungen (Jungfer) und phonetisch ähnlicher Widerrede (Papagei) ruft Komik hervor:

JUNGFER: Aber hör doch! Wir, die wir unser Leblang unser Vertrauen zu den Herren bewahrt haben, müssen doch einmal den Dank erhalten!

PAPAGEI: Den Tank! Den Tank! Den Tank!

JUNGFER (zitternd): Du glaubst doch nicht, daß ich wegen deiner zersetzenden Bemerkung Angst krieg‘!

PAPAGEI: Krieg! Krieg!

JUNGFER (entsetzt): Aber in der großen Rede hat’s geheißen: „Ich bin und bleibe Optimist –“

PAPAGEI: Mist! (GW, 81)

Am Ende der Szene findet ein Rollentausch statt, da unüblicherweise die Jungfer einige Wörter bzw. Sätze des Papageien wiederholt.

In Zeiten des zweiten Lockdowns ist es allzu leicht, sich in die unglückliche Lage des eingesperrten Papageien zu versetzen und seine Ernüchterung, die vor allem im abschließenden Reim (Käfig/Ewig) zum Ausdruck kommt, zu teilen:

PAPAGEI: Lora will aus dem Käfig!

JUNGFER: Lora will aus dem Käfig!

PAPAGEI: Lora muß im Käfig bleiben!

JUNGFER: Im Käfig bleiben. Im Käfig –

PAPAGEI: Ewig! Ewig! (GW, 82)

Durch die Auseinandersetzung mit Jura Soyfers Texten sollen Studierende dazu aufgefordert werden, über die Ebene der Komik hinauszugehen und ein Bewusstsein für Stilelemente, die von Populisten und Demagogen verwendet werden, zu entwickeln, um gegen sie gewappnet zu sein, denn auch in Corona-Zeiten setzt vor allem die populistische Rechte dieselbe Dialektik der Gegensätze ein – wie bereits bei anderen Fragen, die in Italien im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen (beispielsweise Sparpolitik und Aufteilung der Migrant*innen) –, wobei diese Themen durch die Opposition zwischen „uns“ (Italien) und „ihnen“ (die EU, die Europäische Zentralbank usw.) dialektisch inszeniert werden.35 Die Corona-Pandemie bietet italienischen Populisten die Gelegenheit, „um die Regierung – die das Virus mit falschen Strategien bekämpft habe und deren allzu strenge Eindämmungsmaßnahmen die Wiederaufnahme der produktiven Tätigkeiten verhindert hätten – sowie die EU-Institutionen und jene Mitgliedsstaaten der Eurozone, die wichtige Hilfsmaßnahmen ohne italienische Gegenleistung kritisch betrachten, als Feinde darzustellen“36, was zwar teilweise absurd bis lächerlich erscheint, aber auch verheerende Folgen haben kann.

Stellt man sich die Frage, welches Potential der Fernunterricht gegenüber dem Präsenzunterricht bei der Didaktisierung dieser Thematiken zu bieten hat, kann diesbezüglich das von Ruben Puentedura im Jahre 2006 entwickelte SAMR-Modell,37 das aus folgenden Schritten besteht, aufgegriffen werden:

  1. Substitution (Ersatz): „Die digitale Unterrichtseinheit wird, soweit möglich, 1:1 auf das Digitale übertragen.“38

  2. Augmentation (funktionale Erweiterung): Hier wird der Unterricht auf der Vermittlungsebene verändert, indem Verlinkungen und Hyperlinks zum Einsatz kommen und es Studierenden ermöglicht wird, durch Plattformen und andere Tools, Kommentare einzufügen.39

  3. Modifikation (Umgestaltung des Lernprozesses): Der Lernprozess basiert auf der Nutzung interaktiver Quellen, wodurch die Teilnahme der Studierenden noch weiter in den Fokus rückt. An diesem Punkt erhalten sie nicht nur die Möglichkeit, auf die zur Verfügung gestellten Materialien zuzugreifen, sondern Inhalte selbst zu erstellen.40

  4. Redefinition (neuartige Lernprozesse): Lösungen werden vollständig und eigenständig mit Hilfe von Videobeiträgen und anderen Hilfsmittel aus dem Internet erarbeitet, „digital verschriftlicht oder als Erklärvideo selbstständig dokumentiert und dann präsentiert und evtl. verbessert.“41

Beschränkt man sich auf die erste Phase des SAMR-Modells, würde dazu beispielsweise die Möglichkeit gehören, den Studierenden ausgewählte Buchseiten und Auszüge aus Jura Soyfers Werken online zur Verfügung zu stellen. Außerdem könnten Studierende in Gruppen arbeiten und ihre Gruppenarbeitsergebnisse in einem Textverarbeitungsdokument festhalten.42 Zur zweiten Stufe würde unter anderem die Erstellung von Powerpoint-Präsentationen gehören, in denen multimediale Inhalte eingebunden werden könnten43 (z.B. Texte und Reden von Demagogen). Würde der dritte Schritt herangezogen werden, könnten Studierende ihre eigenen multimedialen Materialien zur gegebenen Fragestellung erschaffen, beispielsweise durch die Aufnahme von Audio- und Videodateien, in denen sie ihre eigenen Deutungshypothesen aufstellen könnten. Bei der vierten Stufe würden die Studierenden ausschließlich Beiträge und Materialien jeglicher Form aus dem Internet nutzen und über das Internet teilen.

Die Erstellung einer digitalen Unterrichtseinheit zu den Texten Jura Soyfers wäre demnach in allen vier Schritten denkbar, wobei in Anbetracht des italienischen Hochschulsystems ein eher vorsichtigerer Ansatz gegebenenfalls zu bevorzugen wäre. Es müssten nämlich einige konkrete Schwierigkeiten berücksichtigt werden, die den Erfolg des Unterrichts beeinträchtigen könnten, vor allem die Tatsache, dass nicht alle Studierende über die notwendigen infrastrukturellen und technischen Voraussetzungen verfügen (laut Istat – das nationale Institut für Statistik – sogar ein Drittel der Studierenden44) und dass es aus organisatorischen Gründen oft problematisch ist, Homeoffice und Homeschooling vor allem in Familien zu vereinbaren, in denen mehrere Kinder zu Hause lernen und deren Eltern von zu Hause aus arbeiten.45

Abgesehen davon, in welcher Form eine Online-Unterrichtseinheit zum hier behandelten Thema letzten Endes umgesetzt wird, sollte das Verständnis über die Werke und das Leben Jura Soyfers unbedingt in Verbindung mit dem aktuellen Zeitgeschehen vermittelt werden, damit Kultur und kritisches Denken trotz massiver Einschränkungen zugänglich gemacht und gefördert wird.

1 Thomas Schlemmer: Die Macht der Populisten – Populisten an der Macht. Der Fall Italien. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2019 486-497, hier 488.

2 Vgl. Giovanni de Ghantuz Cubbe: Lega und Fünf-Sterne-Bewegung: Rechts- und Linkspopulismus?. Totalitarianism and Democracy 17/2020 45-66, hier 46.

3 Luca Argenta: Die Fünf Sterne in Italien – Anatomie einer Bewegung. Von der Protestbewegung zur Regierungspartei http://library.fes.de/pdf-files/bueros/rom/15699.pdf (letzter Abruf am 11.11.2020)

4 Vgl. https://www.frag-machiavelli.de/demagogie/ (letzter Abruf am 11.11.2020)

5 https://www.duden.de/rechtschreibung/Demagogie (letzter Abruf am 11.11.2020)

6 Jura Soyfer: Das Gesamtwerk, Hg. Horst Jarka. Wien- Zürich: Europa Verlag 1993, 71. (von hier an in der Kurzform: GW)

7 Vor allem unter den Rechtspopulisten beispielsweise Lega-Chef Matteo Salvini. Vgl. https://www.repubblica.it/politica/2020/07/27/news/cornavirus_sgarbi_insiste_in_italia_non_c_e_piu_il_governo_ci_ascolti_-262991120/ (letzter Abruf am 11.11.2020)

13 Der manipulative Charakter von Fake News ist teil der vom Duden gebotenen Definition dieses Ausdrucks: Laut Online-Duden handelt es sich dabei um „in den Medien und im Internet, besonders in sozialen Netzwerken, in manipulativer Absicht verbreitete Falschmeldungen.“ https://www.duden.de/rechtschreibung/Fake_News (letzter Abruf am 11.11.2020)

15 Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/trump-china-159.html (letzter Abruf am 11.11.2020)

19 Thomas Schlemmer: Die Macht der Populisten – Populisten an der Macht. Der Fall Italien. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2019 486-497, hier 490.

20 Ebd., 487.

21 Vgl. ebd., 488f.

22 Vgl. Giovanni de Ghantuz Cubbe, Lega und Fünf-Sterne-Bewegung: Rechts- und Linkspopulismus?. Totalitarianism and Democracy 17/2020 45-66, hier 58.

23 Thomas Schlemmer: Die Macht der Populisten – Populisten an der Macht. Der Fall Italien. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3/2019 486-497, 494.

24 Dass Berlusconis Propaganda quantitativ stärker war als die seiner Gegner ist unumstritten. Vgl. Fabio Dei: Pop-politica: le basi culturali del berlusconismo, 11f http://fareantropologia.cfs.unipi.it/wp-content/uploads/2017/01/2011-Le-basi-culturali-del-berlusconismo.pdf (letzter Abruf am 11.11.2020)

25 Nicht umsonst verleiht dieser Ausdruck dem Dokumentarfilm Videocracy – Basta apparire (2009) den Titel. In dem von Erik Gandini gedrehten Film geht es darum, wie das Fernsehen das Verhalten und die Entscheidungen der Bevölkerung beeinflusst, da es das stärkste visuelle Medium ist und von vielen Italiener*innen als Hauptinformationsquelle genutzt wird. Insbesondere wird auf das Medienimperium von Silvio Berlusconi eingegangen und darauf, wie dieses als Mittel seiner politischen Macht eingesetzt wird.

27 Vgl. Fabio Dei: Pop-politica: le basi culturali del berlusconismo, 12 http://fareantropologia.cfs.unipi.it/wp-content/uploads/2017/01/2011-Le-basi-culturali-del-berlusconismo.pdf (letzter Abruf am 11.11.2020)

35 Vgl. Andrea De Petris: Der italienische Rechtspopulismus zu Corona-Zeiten http://library.fes.de/pdf-files/bueros/rom/16328.pdf (letzter Abruf am 11.11.2020)

36 Ebd.

39 Vgl. ebd.

40 Vgl. ebd.

42 Vgl. ebd.

43 Vgl. ebd.