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Weltmuseum der Berge: Virtualität

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Jorge [BIO] & Alfredo Bauer [BIO] (Buenos Aires)*

Menschen beim "Zug in den Wolken"

Die argentinischen Provinzen Salta und Jujuy liegen zwischen dem 20. und dem 25. südlichen Breitengrad. Das würde ein subtropisches Klima bedingen; doch gibt es dieses nur im Ostteil der Provinz Salta. Im Westen bestimmen das Klima die bis zu 5000 Meter hohen Berg-Ketten.

Die Berge zeigen nur kahle Fels-Wände, doch ist deswegen die Landschaft durchaus nicht reizlos. Das liegt an den prächtigen Farben des Gesteins, unter denen der Ocker dominiert. Das Wasser fehlt im allgemeinen nicht, und der Tal-Grund bietet an vielen Stellen Raum für den Anbau von Mais, Wein und Obst. Viel Arbeit wird freilich dem Menschen abverlangt für alles, was der Boden hergibt.

Was beeindruckt dich am meisten in der Quebrada von Humahuaca, dem etliche Hundert Kilometer langen Tal, das ins bolivianische Hochland hinaufführt? Die gewaltige Berg-Landschaft oder die indianischen Menschen, die da leben? Beides zusammen - die Einheit von Landschaft und Mensch, von Natur und Kultur. Das eine ist vom andern nicht zu trennen. Das ist im übrigen Argentinien nicht anzutreffen. Denn dort kam die Besiedlung von außen her, und der Mensch lebt auf der Scholle seit ein, zwei oder höchstens drei Jahrhunderten, hier aber seit Jahrtausenden. Die indianische Kultur konnte hier nicht ausgerottet oder verdrängt werden. Höchstens, daß mit der Kultur der Eroberer eine Art von Amalgam entstand. Anders wäre es ja auch nicht möglich gewesen, hier überhaupt Fuß zu fassen, und den Eroberern war das nicht ohne weiteres verständlich. Die Katholische Kirche begriff es schon besser. Sie respektierte weitgehend die Tradition und die einfache Ethik des Manco Capac und der Erden-Mutter Pachamama und begnügte sich damit, diesem Kulturgut ein paar christliche Elemente aufzupropfen. Der Mensch ist für den Indio - wie es der Philosoph José Carlos Mariátegui ausdrückt - vermählt mit der Erde. Diese Idee prägt das ganze seelische und kulturelle Sein des Indio-Volkes.

Da haben wir also die mächtigen Berg-Ketten aus buntem Gestein und die schweigsamen, vermummten Menschen mit ihren breitkrempigen Hüten und ihren roten Ponchos. Die niedrigen Häuser aus kaum behauenen, aber kunstvoll ineinander verschachtelten und nur ein wenig mit Lehm vermörtelten Steinen. Diese Behausungen der Indio-Bevölkerung sehen noch genau so aus wie bei der Ankunft der weißen Eroberer. Da sind auch die mannshohen Kakteen und die Ziegen-Herden, die in halsbrecherischen Sprüngen die steilen Stein-Halden hinaufeilen. Da ist die schmalspurige Eisenbahn mit ihren dreckigen Abteilen, in denen bolivianische Familien mit ihren Bündeln und mit unzähligen Kindern sitzen und in die Ebene hinunterfahren, um sich bei der Zuckerrohr-Ernte als Tagelöhner zu verdingen, von wo sie nach etlichen Monaten - meist mit Tuberkulose infiziert - zurückkehren.

Durch die Quebrada von Humahuaca fließt der Rio Grande, der aber nur in der Zeit der Schnee-Schmelze seinem Namen Ehre macht. Zwischen der Provinz-Hauptstadt Jujuy und der Grenz-Station La Quiaca gibt es einen Höhen-Unterschied von fast 3000 Metern, den der Bus in etwa acht Stunden bewältigt.

Besonders reizvoll sind die beiden Städtchen Maimará und Tilcara. Hier hat die Dirección Nacional de Parques y Turismo ein Hotel gebaut, in dem man bequem unterkommt. Als besondere Attraktionen besitzt dieses Hotel ein Schwimm-Bassin mit eiskaltem Wasser und drei zahme Lamas. Diese hier heimischen Tiere spazieren jeden Morgen stolz an dem überraschten Fremden vorbei durch den Speisesaal in den Garten.

In den Februar fällt das Fest der heiligen Patronin des Tales. Die Bewohner feiern es so heidnisch wie vor Jahrtausenden, nur dass statt der Pachamama die Muttergottes aus einer entlegenen Berg-Kapelle nach Tilcara gebracht wird. Die Menschen tragen Federschmuck, berauschen sich mit Chicha, führen uralte Tänze auf und halten Markt wie eh und je.

Bei Tilcara befindet sich auch der sogenannte Pucará. Der Name bedeutet "Wohn-Festung". Das Bauwerk kann sich freilich an Großartigkeit mit dem peruanischen Macchu Picchu keineswegs messen, ist aber doch im gleichen Stil gehalten. Die terrassenförmig angelegten Stein-Behausungen, ausgegraben und restauriert, sehen nicht viel anders aus als manche Gassen des heutigen Tilcara. Als Dachbalken dienten immer die Riesen-Kakteen, die hier massenweise wachsen. Ehe sie absterben, werden sie holzig, und sie geben das einzige verfügbare Baumaterial ab.

Abseits von der Hauptstraße in einem Seitental liegt das entzückende Indio-Dorf Purmamarca. Die Menschen sind dort noch nicht so sehr durch den einbrechenden Tourismus verbildet, und der Souvenir-Handel ist erst im Aufkommen. Der Weg, der nach Purmamarca hinaufführt, ist in ganz gutem Zustand. Fünf Kilometer müssen zwar auf Schusters Rappen bewältigt werden. Zuvor aber muß man den Rio Grande überqueren, was mit dem Auto problematisch ist, wenn keine Brücke vorhanden. Der Einheimische benutzt ein Pferd oder ein Maultier, der Besucher hingegen muß, wenn er es wagt, von Stein zu Stein übers Wasser balancieren. Der argentinische Tourist, der auf Fuß-Wanderung kaum eingerichtet ist, läßt sich darauf aber meist nicht ein. Also kommen Fremde nach Purmamarca nur sehr selten. Die junge Lehrerin, die in der kleinen Kirche den Katechismus unterrichtet, fällt fast von der Bank, als sie unser ansichtig wird. Minutenlang ist sie außerstande, ihren Zöglingen das Messwunder zu erklären. Sie verwechselt Blut und Leib, Wein und Brot, daß es die Erzketzer Hus und Zwingli nicht ärger hätten treiben können. Da uns das Mädchen leid tut, verlassen wir eilig die Kirche.

Natürlich sind auch die Kinder anders als die in den Dörfern an der Hauptstraße. Die Fremden sind für sie noch ein Objekt der Neugier, nicht der Ausbeutung. Wenn sie ihnen die Hand hinhalten, tun sie es um zu grüßen, nicht um zu betteln. Wir kommen mit einem achtjährigen Knirps ins Gespräch, der mit seiner fünfjährigen Schwester eine Schafherde vorbeitreibt. Er heiße Jacinto Vilches, vertraut er mir an, und seine übrigen sechs Geschwister seien zum Teil schon groß und stünden in Arbeit. Dann fragt er mit großem Interesse nach dem Leben in Buenos Aires.

Die Verbindungen Argentiniens mit seinen Nachbar-Ländern wurden im Laufe der Geschichte von Buenos Aires nicht gern gesehen. Der gesamte Handel sollte über den Haupt-Hafen gehen. Indem man das erzwang, wurden die Provinzen im Landesinnern nicht nur geschröpft, sondern auch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt. Die Verbindung zu Bolivien durch die Quebrada und auch der (legale oder illegale) Handel mit diesem nördlichen Nachbarn konnte schwer verhindert werden. Anders war es mit Chile, wo die Anden ein zunächst unüberwindliches Hindernis boten. Letzten Endes freilich verstand sich auch die Zentral-Regierung in Buenos Aires dazu, hier zuzugreifen und das lange anstehende Projekt einer Bahn-Verbindung mit Chile - von Salta nach Antofagasta - in Angriff zu nehmen. Am 14. März 1921 unterschrieb Präsident Hipólito Irigoyen das Dekret, das den Beginn des Bahnbaus verfügte und die dazu nötigen Mittel zur Verfügung stellte.

Freilich waren da ganz andere technische Schwierigkeiten zu überwinden als beim Weg durch die Quebrada von Humahuaca ins bolivianische Hochland. 5000 Meter über dem Meeresspiegel beträgt hier die Höhe des Anden-Kammes. Dutzende von Tunnels mussten durch den Berg gesprengt, Stahl-Brücken in schwindelnder Höhe über Hochtäler und Schluchten angelegt werden. Nicht zu vergessen, daß die Bau-Arbeiten in einer Gegend ausgeführt werden mußten, die kaum bevölkert war, daß also Personal mit entsprechenden Fach-Kenntnissen von weit hergeholt, an Ort und Stelle untergebracht und verpflegt werden mußte. Ganz zu schweigen davon, daß ja alle der verderblichen "Puna" - der Höhen-Krankheit - ausgesetzt waren.

Über längere Distanzen mußte die Strecke für Zahnrad-Maschinen eingerichtet sein, da sonst die Steigung nicht zu bewältigen gewesen wäre. An verschiedenen Stellen genügten die üblichen Serpentinen nicht. Vielmehr sollte der Zug im Zickzack von zwei Lokomotiven abwechselnd gezogen und gestoßen, über den steilen Hang hinaufgebracht werden - eine Methode, die erst bei wenigen Gebirgs-Bahnen überhaupt ausprobiert worden war. An zwei Stellen verlaufen die Schienen in der Tal-Sohle, biegen dann ab gegen die eine Wand der Schlucht, klimmen nach oben, indem sie eine Schleife ziehen, und überqueren dieselbe Schlucht dann in schwindelnder Höhe auf einer Brücke. Man nennt diese Konstruktion "el Rulo" (die Locke).

Ingenieur Maury hieß der Leiter des Teams, das die kühne Aufgabe des Bahn-Baus bewältigte. Im Januar 1948 wurde die Strecke eingeweiht. Gleichzeitig gingen von der chilenischen Stadt Antofagasta am Stillen Ozean und von der argentinischen Stadt Salta Züge ab, die sich an der Grenzstation Socompa trafen.

Auf 4500 Meter Höhe liegt auf der argentinischen Seite das Städtchen San Antonio de los Cobres. Lange bevor die Bahn hinkam, lebten hier oben in der Einöde und in dem mörderischen Klima schon Menschen. Sie werden von Leuten, die in bequemen Städten leben, zum Überfluß auch noch verachtet: Sie wären schmutzig, arbeitsscheu, sittenlos, versoffen und Coca-vergiftet. Ich würde, nachdem ich da oben war, denen, die so reden, am liebsten sagen: sie sollen selbst herauf, für eine Woche nur, damit sie einen Begriff davon bekommen, was es heißt, auf dem Hoch-Plateau zu leben.

Ich war nur drei Tage lang oben - drei klare, windstille Tage. Ich habe es unternommen, einen kleinen Hügel zu besteigen, nur einen kleinen Hügel. Und ich bezahlte meine Waghalsigkeit mit einer schlaflosen Nacht, mit rasenden Kopf-Schmerzen und unstillbarem Erbrechen. Natürlich habe ich in diesen drei Tagen meine Wäsche nicht gewechselt. Ich habe mich mit dem eisigen Wasser weder gewaschen noch rasiert. Und am dritten Tag war ich so weit, Schnaps zu saufen und Coca zu kauen.

Ich habe mit den Menschen gesprochen, die da oben leben, nicht drei Tage lang, sondern jahraus jahrein, Sommer und Winter. Mit dem Handels-Vertreter, der alle zwei Monate die Gegend bereist. Mit dem Gemischtwaren-Händler, der Konserven, Nähnadeln und Yerba Mate verkauft. Mit dem Distrikts-Arzt und mit der Lehrerin der neuen Wohn-Schule. Mit der Matrikel-Führerin und mit dem Pfarrer. Mit Grenz-Gendarmen und Schmugglern. Mit Lama-Hirten und Minen-Arbeitern, mit Eisenbahnern und mit kleinen, pausbackigen Indio-Kindern.

Das Hoch-Plateau ist ein reiches Land. Reich an Boden-Schätzen. Salz in ungeheuren Mengen, Salpeter, Borax, Schwefel, Kupfer und Eisen. Hier liegt an der Oberfläche, was sonst aus der Tiefe geholt werden muß. Dennoch hütet die Erde ihre Schätze nirgends so eifersüchtig wie hier. Das Klima ist mörderisch, tödlich dünn die Luft und die Bergketten schier unübersteigbar.

Das Huhn kann nicht brüten, denn der Keim vertrocknet im Ei. Rind und Pferd holen sich auf den Höhen den Tod. Ziege und Maultier ertragen das Klima gerade noch. Nur das Lama, das hier zu Hause ist, fühlt sich wohl und ersetzt Kuh, Schaf und Esel.

Und der Mensch? Nun, der Mensch darf nicht zimperlich sein. Er muß immer und überall herhalten, wenn es Reichtum zu erraffen gilt.

Wir wohnten bei Don Basilio Ivanoff, einem Bulgaren, dem Besitzer des einzigen Hotels, das es in San Antonio gibt. Es war beileibe nicht das, was man sich unter einem Hotel vorstellt, aber immerhin ein Haus, das gegen Bezahlung Betten an Fremde abgibt. Zufrieden war der Mann, weil jemand kam, mit dem er plaudern konnte: gar zu oft wird ihm diese Freude ohnedies nicht zuteil.

"Primitivo!", ruft er seinen vierzehnjährigen Diener. "Erzähl doch mal dem Herrn von den zwei Touristen aus Tucumán! Du weißt, die der weiße Wind erwischt hat."

Der kleine Indio Primitivo Díaz kommt aus der Kochnische, wo er das Mittagessen zubereitet. Hätte Denis Papin nicht seinen berühmten Pressions-Topf erfunden, wäre das Kochen hier überhaupt unmöglich. Das Wasser siedet bei neunzig Grad, und da wird weder Fleisch, noch Gemüse weich.

"Der weiße Wind!" Primitivo bekreuzigt sich zweimal, dann beginnt er mit leiser Stimme zu erzählen: "Zwei Männer waren am Abend vorher in einem großen Auto über die Straße heraufgekommen. Am nächsten Tag wollten sie nach Antofagasta de la Sierra weiter und wieder zurück. Ich sollte ihnen abends die Tür offen lassen, wenn sie nicht rechtzeitig zurück wären."

"Zweihundert Kilometer über die Berge!", wirft Don Basilio ein. Er hält es nicht lange aus, daß ein anderer erzählt. "Ich hätte sie nicht fortgelassen, hätte nötigenfalls die Gendarmerie geholt. Aber ich war gerade nicht da, und über Primitivo lachten sie bloß. Ihr Auto käme frisch aus der Fabrik. Als ich zurückkam, waren sie weg."

Er stützt den Kopf in die Hand. "Vielleicht hätten wir sie zurückholen sollen. Doch der weiße Wind setzte schon am Nachmittag ein, da war nicht mehr daran zu denken. Es wäre Selbstmord gewesen. Wir konnten nur hoffen, dass sie schon in Antofagasta wären. Aber sie waren noch nicht dort. Siebzig Kilometer davor hatte der weiße Wind sie eingeholt."

Der kleine Primitivo bekreuzigt sich nochmals.

"Der weiße Wind", wiederholt Don Basilio, "bricht urplötzlich aus den Berg-Schlünden hervor und treibt mit einer Geschwindigkeit von 120 Metern in der Stunde erbsengroße Körner vor sich her. Die beiden Männer befanden sich in der Einöde auf 4500 Metern Höhe. Ihrem fabriksneuen Auto waren im Nu die Scheiben eingedrückt und das Wasser im Kühler gefroren. Als nun der Wagen keinen Schutz mehr bot und der Sturm ein wenig nachließ, versuchte der eine loszumarschieren, um Hilfe zu holen. Aber er kam nicht weit. Etwa eineinhalb Kilometer vom Auto entfernt fand man ihn nackt am Boden liegen, erfroren."

"Nackt?", rufe ich entsetzt.

Don Basilio nickt. "So geht es den Menschen. Kurz bevor sie am Ende sind, werden sie toll vom Fieber, glauben, dass sie es nicht aushalten können vor Hitze und reißen sich die Kleider vom Leib. Dann fallen sie um und sterben."

Don Basilio mustert mich. Offenbar hält er mich für stark genug, den Rest seiner Erzählung zu hören.

"Manchmal sterben sie noch schneller", sagt er. "Oben auf dem Berg-Kamm können Sie eine Reiter-Statue sehen: ein Lama-Hirte auf seinem Maultier, die beide einmal lebendig waren. Der weiße Wind ließ ihnen keine Zeit zum Umfallen. Sie neigten sich ein wenig und erstarrten. So stehen sie dort. Sie fallen auch nicht um, wenn das Eis schmilzt, denn das Fleisch vertrocknet, wird zur Mumie."

"Wie ... wie starb der zweite der beiden Männer?", frage ich.

Er schüttelt den Kopf. "Der andere war vernünftig genug, länger im Auto zu bleiben. Als der Sturm sich gelegt hatte, fand ihn ein Schmuggler, der seine paar Maultiere vorübertrieb, bewußtlos auf. Er dachte keinen Moment, er könne überleben, brachte ihn aber, quer über den Sattel gelegt, nach San Antonio, um ihm ein christliches Begräbnis zu verschaffen. Hier nahm unser Doktor ihn in Empfang, und er brachte ihn durch. Ihm fehlen beide Beine von den Knien abwärts. Eine Amputation ist fast nie notwendig. Die Gliedmaßen fallen von selbst ab. Trockene Gangrän."

Don Basilio mustert mich von neuem. "Das Leben ist hart hier im Hochland", wiederholt er.

"Wie halten die Leute das nur aus?", frage ich.

"Ohne die Coca," sagt er, "wäre es überhaupt unmöglich. Ich rede nicht vom Klima allein, sondern von der Anstrengung. Die Leute kriegen es fertig, zehn Stunden ohne Unterbrechung in der Mine zu arbeiten oder eine Last von mehr als fünfzig Kilogramm über vierzig Kilometer zu tragen. Sie spüren dabei weder Hunger und Durst, noch Müdigkeit und Kälte. Sagen Sie es allen, die unsere Leute deswegen für lasterhaft halten, wie das Leben hier ist!"

Kurz darauf saß ich mit dem Arzt von San Antonio in seiner bequemen Dienst-Wohnung am Kamin-Feuer. Doktor Armando Contreras, Leiter des Hospitals, Gendarmerie-Offizier mit Majors-Rang, Amts-Arzt des Bezirks Los Andes, bezieht für alle diese Funktionen das fürstliche Monats-Gehalt von hundertachttausend Pesos. Und er verdient es auch, denn trotz der geschilderten widrigen Umstände ist in seinem Sprengel die Kinder-Sterblichkeit die niedrigste der ganzen Provinz Salta. Er hat aus eigenen Mitteln einen Röntgen-Apparat angeschafft, einen Elektrokardiographen und ein Mikroskop. Seine Familie lebt im Sommer bei ihm, im Winter in Salta, wo die Kinder bei den Salesianern die Schule besuchen

Wer hat mir nur erklärt, daß jeder Arzt geistig rettungslos verkommt, wenn er von den wissenschaftlichen Zentren der großen Städte abgeschnitten ist? Doktor Contreras ist nach achtzehn in der Einöde verbrachten Jahren durch und durch ein Wissenschaftler. Sein Steckenpferd ist die Gebirgs-Physiologie: das Verhalten des menschlichen Organismus in der Höhe. Er hat mit selbst konstruierten Apparaten eine Reihe hochinteressanter Experimente gemacht und darüber eine Broschüre geschrieben, die von der Universität Córdoba preisgekrönt wurde.

"Fünf Millionen rote Blut-Körperchen", setzt er mir auseinander, "das ist anderswo normal - bei mir ist es eine schwere Anämie. Hier braucht man mindestens sieben, um das bisschen Sauerstoff einigermaßen auszunützen. Die Kinder kommen schon so auf die Welt. Aber sie schonen auch ihre Mütter und erleichtern ihnen die Geburt durch ein geringes Anfangs-Gewicht. Keine Tabelle taugt hier. Ich mußte für alles meine eigenen Tabellen ausarbeiten."

"Aber achtzehn Jahre hier", sage ich, "sind doch nicht nur eine Frage der Blut-Körperchen und der physiologischen Anpassung. Mir ist völlig schleierhaft, wie Sie das so lange ausgehalten haben."

"Man soll die Sache nicht tragisch nehmen", erwidert der Arzt. "Wer das tut, ist im Grunde schon mit seiner Kraft am Ende. Sicher nehmen auch die Leute hier ihr schweres Dasein nicht schwer. Das Leben ist eben so und deshalb erträglich."

Gerade in diesem Augenblick tritt ein alter Indio ein.

"Don Francisco!", ruft der Doktor erfreut. "Nehmen Sie doch Platz! Was führt sie zu mir?"

"Wollte mich nur verabschieden, bevor ich wieder losgehe", beginnt der Alte. "Und fragen, ob Sie nichts brauchen von.....von drüben."

Sein Blick fällt auf mich, und mißtrauisch fragt er: "Wer ist das?"

"Ein Freund", antwortet der Arzt.

"Möchte ihm gern dienen, wenn er Ihr Freund ist", erklärt der Indio und verbeugt sich, jeder Zoll ein Gentleman.

"Nett von Ihnen", sagt Doktor Contreras. "Aber ich glaube nicht, daß er noch hier ist, wenn Sie wiederkommen. Und mir haben Sie doch erst neulich etwas mitgebracht. Vielen Dank und gute Reise!"

Der Alte schüttelt uns beiden die Hand und geht.

"Wissen Sie, wer das ist?", fragt mich der Doktor.

Mir war die Sache natürlich schon klar. Einigermaßen sonderbar kam mir der Händedruck zwischen dem Schmuggler und dem Gendarmerie-Offizier schon vor.

"Der Schmuggel stand an der Wiege der argentinischen Nation", äußert Contreras. "Er war unser erstes Aufmucken gegen das spanische Monopol. Die Revolution war das zweite." Er lacht. "Nun ja, ich vertrete hier sozusagen die Staatsgewalt. Aber Don Francisco respektiert die Obrigkeit durchaus, solange sie ihm nicht ins Gehege kommt."

"Was holt er eigentlich von drüben?", erkundige ich mich.

"Hauptsächlich Coca-Blätter", antwortet der Doktor. "Die Einfuhr ist offiziell verboten. Aber ich glaube nicht, daß wir da im Hochland sehr streng sein dürfen."

"Und wie transportiert er seine Ware? Auf Maultieren?"

"Keine Spur! Der ist noch von der alten Schule. Maultier-Schmuggler verachtet er. Er geht zu Fuß. Dreihundert Kilometer in einer Woche. Mit einer Last von fünfzig oder sechzig Kilogramm. Freilich greift er ab und zu hinein. Die Nacht verbringt er bei andern Indios in den Bergen und revanchiert sich mit einer Hand voll Blätter."

"Und wie alt ist er?"

"Das weiß er vermutlich selbst nicht genau. Aber es dürfte ihm nicht viel auf achtzig fehlen."

"Wenn ihn nun", muss ich doch fragen, "auf den Höhen der weiße Wind erwischt?"

Doktor Contreras zuckt die Achseln. "Er kennt Gebirge und Wetter gut; weiß genau, wann er losgehen kann und wann nicht. Aber wenn es ihn wirklich einmal trifft, dann wird er sich eben hinlegen und sterben, still und schlicht, wie seine Ahnen gestorben sind, an Hunger und an Kälte, an den Kugeln der spanischen Soldaten und unter der Peitsche der Minen-Aufseher. Glauben Sie nicht, daß er viel Aufhebens davon machen wird."

Dem Arzt lag daran, dass ich keinen allzu traurigen Eindruck mitbekäme von dem Leben in dieser Gegend. Er liebte sie, und er liebte die Menschen, die da wohnten. Und er wollte mir diese Liebe vermitteln, das war deutlich zu sehen.

"Gehen Sie doch hinüber zu unserm Pfarrer", riet er mir. "Er ist gerade von seiner Missions-Tournee zurück. Und er kann Ihnen so manches erzählen, was nicht weniger interessant ist als das, was Sie von mir gehört haben."

Ich sah den alten Herrn gleich, als ich die Kirche betrat. Er stand auf der Leiter und putzte die Fenster. Sogleich stieg er herunter, legte den Lappen weg und gab mir bereitwillig Auskunft. Denn auch er freute sich darüber, einen Kumpan zum Plaudern zu haben.

"Nun, wie geht's mit der Seelsorge, Padre?", frage ich.

"Wie soll es gehen?", fragt er zurück. "Alle paar Wochen setz' ich mich auf ein Maultier und reite die Gegend ab. Ob's wo was zu trauen oder zu taufen gibt. Bloß zur Letzten Ölung komm ich meistens zu spät, versteht sich. Glaub' aber nicht, daß Gott, der Herr deshalb zürnt. Nur der Bischof, sehen Sie, der Bischof in Salta schilt mich oft, weil ich nicht streng genug mit den Leuten bin. Ich laß ihnen ihre heidnischen Gebräuche und bin zufrieden, wenn sie von mir ein bisschen Christentum dazunehmen. Ich könnt's wohl auch nicht anders halten hier oben. Aber da unten begreift man das schwer. Ich hab' doch in dreißig Jahren auch eine gewisse Erfahrung gesammelt."

"Dreißig Jahre!", staune ich. "Da könnten Sie wohl ein paar Bücher schreiben, Padre."

"Versteh' mich nicht aufs Schreiben", antwortet Don Indalecio. "Aber man hat schon einiges gesehen, das ist wahr. Immerhin erlebt man manchmal doch noch etwas, was einem neu ist. Neulich das mit dem Ehebruch zum Beispiel. Aus dem entlegensten Berg-Winkel, wo ich fast nie hinkomme, hat man mir gesteckt, eine Frau betrüge ihren Mann mit dessen eigenem Bruder. Alle Leute wüßten das. Ich müsse also doch dagegen einschreiten. Schön, ich knöpfe mir erst einmal den Ehemann vor. Ob er nicht wisse, dass die Frau mit seinem Bruder schlafe. Freilich wisse er das, sagt er. Er habe den Bruder darum gebeten. Denn er selbst könne keine Kinder zeugen, wie er festgestellt habe. 'Und mein Bruder, Padre', sagt er, 'hat Bezahlung dafür verlangt, obwohl er mein Bruder ist. Hab's ihm auch gern bezahlt. Daß er nachher nicht die Kinder von mir verlangen kann. Warum soll ich keine Kinder haben, Padre?' fragte er. 'Bin ich etwa kein Mensch? So hab ich bis jetzt zwei. Und ich würde Sie bitten, dass Sie sie mir taufen, Padre.'"

Der alte Priester schaut besorgt drein. "Wenn der Bischof in Salta das erfährt! Hätte ich mich weigern sollen? Haben diese Menschen das verdient?"

Ich erinnere ihn an die Geschichte von Judas Söhnen und seiner Schwiegertochter im Alten Testament. Da stehe doch, dass der Stamm Kinder haben soll, und sei es auch durch Blutschande.

Er strahlt. "Das hatte ich wahrhaftig vergessen. Aber ich bin froh, daß ich's richtig gemacht hab'. Hab' ihm die Kinder getauft und gar nichts weiter gesagt."

Nicht ganz so gut ausgegangen sind die heidnischen Bräuche der kleinen Blanca Quirós, die es trotz ihrer indianischen Abkunft zur beeideten Matrikel-Führerin der argentinischen Nation gebracht hatte. Auch sie hatte schlüssige Beweise für ihre Unfruchtbarkeit. Sehr schlimm, wahrhaftig. Zumal es auch bedeutete, daß sie keinen Mann finden würde, der bereit wäre, sie zu ehelichen. Denn das war ja die Regel, daß die Fruchtbarkeit der Braut zuvor bewiesen sein mußte. Da sie aber sozusagen an der Quelle saß, fiel es ihr leicht, einer anderen kleinen India ihren neugeborenen Säugling abzuschwätzen und als ihr eigenes Kind ins Zivil-Register einzuschreiben.

Das Mittel half. Binnen kurzem hatte Blanca einen Mann für den Traualtar. Gegen das fremde Kind erhob dieser zwar keinen Einspruch; mit der Zeit aber wollte er doch auch ein eigenes haben. Und als das immer länger auf sich warten ließ, wurde er unruhig, schöpfte Verdacht und kam schließlich dem ganzen Schwindel auf die Spur.

Der "betrogene Ehemann" schlug einen haushohen Krach, verprügelte seine Frau nach Noten und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Blanca kam mit geschwollener Nase und vielen blauen Flecken ins Matrikel-Amt, und sitzt nun wieder allein mit ihrem eigenen, fremden Kind vor dem Zivil-Register, in das sie die Eheschließungen und die Geburten anderer Frauen fein säuberlich einträgt.

Da haben wir also das Leben auf dem Altiplano. Die Menschen leben nicht nur in dieser Hölle, sie arbeiten auch und produzieren Reichtum, der dann nicht ihnen zugute kommt, sondern ein paar Müßiggängern, die sie obendrein noch verachten. Sie haben die Bergwerke angelegt, die Stadt San Antonio gebaut mit Hospital, Wohnschule und Elektrizitätswerk. Auch die Gebirgsbahn, dieses Wunder der Technik. Nicht geschmälert werden soll das Verdienst des Ingenieurs Maury und seines Planungs-Teams. Aber ohne die Männer, die in dieser tödlich dünnen Luft die Steine schleppten und in schwindelnder Höhe die Eisen-Streben aneinander nieteten, hätten die Wissenschaftler und Techniker dieses Wunderwerk doch nicht schaffen können.

 

 

 

Daß ich oben war, ist schon ein paar Jahre her. Heute kommt man mit dem Tren de las Nubes, dem "Wolken-Zug" schon etwas bequemer hinauf, und die Gegend ist also auch dem Tourismus einigermaßen erschlossen. Staunend beobachten die Besucher die Wunder der Natur und auch die Wunder der Technik. Wenn sie dabei nur nicht auf den Menschen vergäßen, der doch wohl das größte aller Wunder ist!

 


* Material (darunter Auswahl aller Foto-Materialien): Jorge Bauer (Buenos Aires); bearbeitet und übersetzt von Alfredo Bauer (Buenos Aires).

 


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