(Die Tragödie des Menschen von Imre Madách und Mysterium Buffo von Vladimir Majakovskij)
Gute Literatur steht in einer Kette anderer Texte und schon deshalb ist sie der Sache nach Dialog mit vergangenen aber auch zukünftigen Werken. Auch Jura Soyfers Lechner Edi (uraufgeführt am 6. Oktober 1936, Theater „Literatur am Naschmarkt“, Regie Walter Engel) nimmt, bewusst oder unbewusst, in vielfältiger Weise auf andere Werke der Weltliteratur Bezug, tritt mit ihnen in Dialog, gewinnt durch diesen Dialog in jedem Fall eine tiefere Bedeutung und lässt manchmal sogar dem beantworteten Text eine geistreiche Interpretation zuteil werden.
Ich habe zum Vergleich zwei Autoren verschiedener Nationen ausgewählt, den ungarischen Dichter Imre Madách und den russischen Dichter Vladimir Majakovskij, deren Werke, Die Tragödie des Menschen bzw. Mysterium Buffo Parallelen mit Soyfers Stück aufweisen. Alle drei Texte sind der Gattung nach Stationendramen und Traumspiele, in allen drei ist die Handlung als mystische Reise durch Raum und Zeit aufgebaut, und auch in der Thematik zeigen alle drei Ähnlichkeiten auf, wie Suche nach Besserungsmöglichkeiten für die Menschheit bzw. Gesellschaft, Gottfrage, Paradies als mythischer Ort der Schöpfung, aber auch als Ort erster problematischer Entscheidungen.
Ich habe keinen Beweis für die direkte Wirkung dieser beiden Werke auf Jura Soyfers Text, aber als russischer Emigrant und österreichischer Dichter muss Soyfer von Majakovskijs Mysterienspiel zumindest gehört, wenn es nicht auch gelesen haben. (Immerhin hat er den Herausgeber von „New Writing“ in Russisch unterrichtet, um die neue sowjetische Literatur im Original lesen zu können.) Auch ansonsten gibt es viele Parallelen zwischen den beiden Dichtern. Soyfer war ein jüngerer Zeitgenosse Majakovskijs, beide Vertreter des avantgardistischen Theaters, beide politisch engagiert und sie haben das Theater mit politischem Zündstoff belebt – also auch in ihrer politischen Einstellung, moralischen Haltung, ihrem Habitus und Lebenslauf finden wir viele Ähnlichkeiten (z.B. beide verhaftet und eingekerkert aus politischen Gründen, beide jung verstorben, mit 9 Jahren Unterschied, Majakovskij 1930, Soyfer 1939).
Aber auch auf Madáchs Drama hätte Soyfer leicht stoßen können. Wie es möglich wäre, möchte ich in einem kleinen Exkurs erläutern.
(Exkurs: Imre Madách ist, neben Sándor Petőfi, der in Europa vielleicht bekannteste Dichter der ungarischen Literatur- und Kulturgeschichte. Die Tragödie des Menschen, geschrieben in der Form des dramatischen Gedichts (eine populäre Gattung der Romantik), gilt nicht nur als sein Hauptwerk, sondern als das wichtigste, am häufigsten aufgeführte Stück in den ungarischen Theatern. Der Text wurde zwischen 1859 und 1860 angefertigt, 1861 veröffentlicht, uraufgeführt aber erst nach dem Tod des Autors, 1883. Das „Menschheitsgedicht“ oder oft einfach „Tragödie“ genannte Stück ist ein typisches Werk des 19. Jahrhunderts. Obwohl seine Sprache schon ein wenig archaisch anmutet, sind seine zentralen Gedanken recht modern. Die Tragödie des Menschen wurde auf den bedeutendsten Bühnen der Welt (in Deutschland z.B. in Hamburg, Frankfurt und Berlin) aufgeführt. Ins Deutsche wurde sie schon im Januar 1862, zwei Wochen nach der ungarischer Veröffentlichung übersetzt, allerdings diesmal noch unvollständig. Bis heute erschien das Werk in ungefähr 40 Sprachen: nur auf Deutsch sind (einschließlich der unvollständigen Übersetzungen) mehr als zehn Übersetzungen gekannt, auf englisch acht verschiedene. (Die metrische Eigenart dieses Werkes – jambische Zeilen – wurde jedoch nicht von jeder Übersetzung gewahrt.) Das Stück wird gerne als „ungarischer Faust“ apostrophiert, da ihm, wie in einem gewissen Sinn auch allen ausgewählten Texten, Goethes Faust als Vorlage diente. Als Kuriosum möchte ich erwähnen, dass Madáchs Drama wiederum zur Vorlage einem brandneuen deutschen Text diente: Albert Ostermaier hat aus Madáchs Tragödie Inspiration für sein Opernlibretto, Die Tragödie des Teufels, geschöpft. Ostermaier war nämlich von dem ungarischen Nationalepos so sehr begeistert, dass er ihn weitergedacht und aus dem bildungsbürgerlichen 19. ins virtuelle 21. Jahrhundert adaptierend verlängert hatte, wie Madách damals Goethes Werk in seine eigene Zeit holte. Ostermaiers Text wurde stilgemäß von einem in Deutschland lebenden gebürtigen Ungar, Peter Eötvös vertont und uraufgeführt – am 22. Februar 2010 in der Münchner Staatsoper. So kreisen die Texte im europäischen Kulturgut, und zwar nicht nur in eine Richtung, sondern sie beeinflussen sich wechselseitig.
An dieser Stelle möchte ich auf auf alle drei Fabel näher eingehen, um festzustellen, welche intertextuelle Beziehung Soyfers Text zu diesen beiden anderen aufweist.
Jura Soyfer: Der Edi Lechner schaut ins Paradies (1936):
Seit Jahren wartet der arbeitslose Lechner Edi auf den Elektromotor, der ihn in der Schuhfabrik ersetzt hat, und dadurch in seinen Augen die Schuld an seiner Misere trägt, um mit ihm abzurechnen. Als dieser Elektromotor „Pepi“ auftaucht, stellt sich heraus, dass auch er bereits einer moderneren Maschine Platz machen musste. So machen sich Pepi, Edi und dessen Freundin Fritzi gemeinsam auf den Weg in die Vergangenheit, um den wahren Schuldigen zu finden. Aber wer ist eigentlich Schuld an Edis und Pepis Arbeitslosigkeit? Beide Arbeitslose glauben zuerst: die Industrialisierung mit ihren Maschinen! Mit dieser Hypothese suchen sie große Männer der Geschichte auf, um Erfindungen und Entdeckungen zu verhindern, und damit dem zukünftigen Leid der menschlichen Gesellschaft zuvorzukommen. Die Zeitreise führt sie am Anfang zu Galvani, dann zu Columbus. Am Ende dieser Suche nach dem wahren Verantwortlichen kommen sie bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte, d.h. vor die Tore des Paradieses in der Vorschöpfungszeit. Edi kommt zum Schluss, dass in der historischen Kette der Erfindungen und Entdeckungen die Erfindung der Menschheit der letztmögliche Grund für seine elendigliche Lebenssituation sei. Edi versucht, die Erfindung der Menschheit zu verhindern, doch Fritzi vereitelt ihrerseits diesen Versuch, mit ihrem entschlossenem „Ja“ im Gegensatz zu Edis „Nein“ auf die Erschaffung des Menschen. Und eben durch diese Unstimmigkeit entsteht die Menschheit: Der Gegensatz von Edi und Fritzi ist die zündende Idee für die Genesis, da die Welt im Sinne der Dialektik aus Ja und Nein zusammengesetzt ist.
So gelangt Edi zur Erkenntnis: „Auf uns kommt´s an“, denn der Mensch kann sich für seine Handlungen entscheiden. Diese zentrale Aussage von Soyfers Stück stimmt mit der Lehre von den beiden anderen Werken überein, nämlich dass der Mensch allein auf sich gestellt ist, und es nur auf ihn ankommt, wie er mit seinen Chancen umgeht.
Imre Madách: Die Tragödie des Menschen (1860)
In Madáchs kühnem Welttheater des 19. Jahrhunderts durchwandern die ersten Menschen Adam und Eva verschiedene Epochen der Menschheit und erleben die Tragödie des Menschen als Geschichte des Unrechts und Leides. Auch dieses Paar hat einen Begleiter mit überirdischen Fähigkeiten, wie Edi und Fritzi, der ihnen eine Zeitreise ermöglicht. Es ist nämlich der gefallene Gottesengel, der Teufel Luzifer, der Adam und Eva durch eine Welt voller Konflikte führt. Er bringt das Menschenpaar immer wieder in ausweglose Situationen, um die Nichtigkeit menschlicher Werte zu beweisen.
Tatsächlich ist Madáchs Drama nicht nur eine Reflexion von Goethes Faust, sondern zugleich ein gesellschaftskritischer Ritt durch die Geschichte, ähnlich wie Soyfers Edi Lechner Spiel. Ob das Reich der Pharaonen, das alte Athen und Rom, die Französische Revolution oder der Kapitalismus: Adam scheitert überall.
Die Tragödie ist eine Summierung Madáchs philosophischer Ansichten, umfassender historischer Kenntnisse, persönlicher Lebenserfahrungen und langüberlegter Folgerungen. Sie ist kein Programmwerk, sie bietet keine Lösung, oder zu befolgende Ideologie an. Die historischen Epochen wechseln während des Stückes, aber die Hauptfiguren bleiben immer die selben: Adam, Eva und Luzifer. Die Reise demonstriert die gesellschaftlichen Strukturen und die ideologischen Strömungen der verschiedenen Epochen. Luzifer, der ewige Begleiter und Versucher zeigt Adam und Eva eine blutige Realität und falsche Wunschbilder. Jede Reise endet im Überdruss. Das dramatische Gedicht endet mit Adams selbstvernichtender Geste. Ähnlich wie der Edi Lechner, würde auch Adam lieber auf die menschliche Existenz verzichten. Doch als er sich in die Tiefe stürzen will, eröffnet die Ankündigung von Evas Schwangerschaft einen neuen Weg zu einer unbekannt-bekannten Zukunft. Wieder ist die Frau diejenige, in deren Stimme das Leben triumphiert, auch wenn dieses Leben nun kein bestimmtes Ziel mehr hat; das Ziel ist der Kampf, das Ziel ist das Leben selbst und dessen Erleben. Dies stimmt mit Edis Schluss überein: Adam und Eva müssen ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen. Oder wie der Herr Adam in Madáchs Stück Mut einflößt: „Ich sage dir Mensch: kämpfe und vertraue.“
Wie bei Soyfer, ist auch bei Madách jedermann angesprochen. Beide Werke handeln von dem Schicksal und der Zukunft der gesamten Menschheit, dem Dilemma der Entscheidung zwischen Gemeinschaft und Individuum, dem Ringen des Idealen und des Realen, dem Kampf des Geistes (männliches Prinzip) und der Materie (weibliches Prinzip). Und beide Texte versuchen, die Dialektik selbst zu erklären.
Vladimir Majakovszkij: Mysterium Buffo (1918)
Die letzte Station von Adams und Evas Reise in Madáchs Tragödie ist der Nordpol, wo die beiden als Eskimos leben. Jener Ort, an dem die Handlung von Majakovskijs Stück Mysterium Buffo beginnt (die erste Version uraufgeführt am 7.11.1918, zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution, die 2., erweiterte Fassung in Moskau aufgeführt 1.5.1921). Auch Majakovskijs weibliche Protagonistin Zoja erscheint als Eskimofrau: sie zieht den Nordpol aus seiner Stelle heraus, um die Welt zu vernichten. Zoja ist ebenso schwanger wie Adams Frau Eva und somit ist auch sie Trägerin eines Neubeginns. (Schwangerschaft ist meistens Symbol eines Neubeginns.) Der männliche Protagonist Pierre hingegen ist ein Wahlverwandter von Soyfers Edi Lechner: er kämpft gegen die industrialisierte, mechanisierte Gesellschaft und fühlt sich als Opfer der Maschinen. Das Mysterienspiel enthält eine Parodie auf die biblische Erzählung von der Sintflut. Der Nordpol ist der letzte trockene Flecken der Erde, an dem die letzten Vertreter der Menschen Gattung, Repräsentanten des Kapitalismus und der Arbeiterschaft, zusammenkommen, um eine Arche zu bauen, mit der sie durch Hölle und Himmel fahren. Unterwegs werfen die Arbeiter ihre Ausbeuter über Bord und nehmen Kurs auf das Paradies. Dieses kommunistische Paradies erinnert an Madáchs Phalanstère– auch ein utopischer Ort, eine Art kommunistisches Eden: in beiden ist das Leben unerträglich fad. Majakovskijs Protagonisten langweilen sich so sehr, dass sie freiwillig auf die Erde zurückkehren, um hier das irdische Paradies für sich selbst einzurichten. Denn allein auf sie kommt es an, wie Edi Lechner in Soyfers Stück den Schluss für sich zieht, ob sie ihre Chancen ergreifen oder nicht. Majakovskijs Arbeiterprotagonisten bringen die unter Trümmern gefundene alte Lokomotive wieder in Gang, um in das selbst zu erschaffende gelobte Land zu gelangen, wo alles blumengeschmückt und elektrifiziert ist, und wo sie von den Maschinen nicht mehr gequält, sondern bedient werden. Dieses Stück entstand direkt nach der Oktoberrevolution, in der optimistischen Phase von Majakovskijs Leben. Die zwei späteren satirischen Dramen (Das Schwitzbad und Die Wanze, beide 1929) stellen ein viel düsteres Bild von der gesellschaftlichen Entwicklung dar.
Fazit
Alle drei Dramen sind utopische Menschheitsgeschichten voller Schöpfungsmythen, und insofern sind alle drei philosophische, ideologische und geistige Herausforderungen. Alle drei laufen auf den Schluss hinaus, dass der Mensch einerseits ganz auf sich gestellt ist (Menschsein = Verlassenheit), andererseits allein auf ihn kommt es an (Menschsein = Möglichkeit). Gemeinsam ist auch die gendertypische Antwort auf die grundlegende Entscheidung, ob sich das Leben lohnt oder nicht: die Frauen bejahen, die Männer eher verneinen die Erschaffung der Menschheit und den Verlauf der Menschheitsgeschichte. Bei Madách und Soyfer reisen die Protagonisten nicht nur durch Raum, sondern auch durch Zeit: Bei Madách der Chronologie folgend, von der Schöpfung und von der Vertreibung aus dem Paradies an in die elendigliche Zukunft der Menschen Gattung – ohne Wiederkehr ins Paradies; bei Soyfer findet die Reise chronologisch verkehrt statt, d.h. Ausgangspunkt ist das 20. Jahrhundert und die Reise führt quer durch die Vergangenheit zu den Toren des Paradieses, in die Vorschöpfungszeit; von hier aus kehren dann die Protagonisten wieder in ihre Gegenwart zurück. (Majakovskij verwendet die Zeitmaschine in diesem Stück noch nicht; jene wird aber in seinen zwei späteren Dramen eine wichtige dramaturgische Rolle spielen.) Die Mysterienreise findet nur durch einen (virtuellen) Raum statt. Die Figuren landen zwar im Paradies, aber wegen Langeweile kehren sie dann von dort wieder auf die Erde zurück.
Die Literatur ist der Sache nach Dialog, Intertextualität. Die drei Dramen können ohne Schwierigkeiten aufeinander bezogen bzw. als Varianten eines und desselben Menschheitsmythos gelesen werden. Alle drei Dramen enthalten das formale Prinzip der Aktualisierung. Der Text sollte unter Beibehaltung bestimmter, konstanter Rahmenelemente, in den zeitlich verschiedenen Aufführungen immer wieder umgeschrieben und an die historischen Ereignisse in Politik und Gesellschaft angepasst werden. Zahlreiche Aufführungen , sogar Umschreibungen – wie Ostermaiers Teufelstragödie – beweisen die Universalität der Fragenstellung von diesen Texten und somit ihre Anpassungsfähigkeit an die jeweiligen historisch-politischen Umstände.
Anscheinend werden in der Literatur weniger neue Mythen erfunden als eher alte Mythen umgeschrieben, weitergeschrieben, gegengeschrieben, parodiert und modernisiert. Es geht jedoch nicht so sehr darum, Mythen im Sinne von l’art pour l’art noch einmal hervorzukramen und zu variieren, sondern ihre Geschichten zeitgemäß, d.h. je ihrer eigenen Zeit gemäß zu Ende zu bringen. Wie Soyfer geben auch Madách und Majakovskij je eine Antwort auf die Probleme ihrer Lebenssituation und der sie umgebenden Gesellschaft. Eine Antwort, aber keine Lösung. Und diese drei Antworte sind repräsentative Darstellungen ihrer Zeit. Jeweils ihrer eigenen.