Mag. Tobias Jussel (Wien | Vienna)
In Zeiten von COVID19 wird Schultheater für alle Beteiligten zur Herausforderung. Unsicherheiten, die im Bereich der unverbindlichen Übungen ohnehin schon bestehen (Fluktuation der Schüler/innenzahl, Konkurrenz zu anderen Lehrveranstaltungen etc.) erhalten durch die Pandemie eine völlig neue Dimension. Es stellt sich die Frage, inwieweit Schultheater im Jahr 2020 überhaupt noch funktionieren kann.
Erstes und sichtbarstes Zeichen der neuen Zeit stellt der Mund- und Nasenschutz dar. Die Maskenpflicht für Mischgruppen (Schüler/innen aus verschiedenen Klassenverbänden) beraubt uns der vielleicht wichtigsten Werkzeuge eines Schauspielers: Stimme und Gesicht sind nur noch eingeschränkt einsetzbar. Die Ausnahmeregelung, welche die Probenden auf der Bühne von dieser Schutzmaßnahme befreit, lässt Kinder und Jugendliche für kurze Zeit zwar wieder auf natürliche Weise miteinander kommunizieren – die im Vorfeld der Schulschließungen heiß diskutierte Frage, inwiefern Bildungseinrichtungen für die Verbreitung des Virus verantwortlich sind, hinterlässt hier aber einen fahlen Beigeschmack. Schultheater bedeutet heute nicht selten einen Gewissenskonflikt. Tragen wir durch unsere Arbeit zur Ausbreitung bei? Wozu also überhaupt das Risiko?
Monatelang galt in Österreich das Mantra, die Schulen vor dem erneuten Herunterfahren zu bewahren. Ich vermag die Entscheidung der letzten Wochen als Laie nicht zu beurteilen, die Maßnahmen mögen notwendig sein. Was ich jedoch beobachten konnte, waren die Reaktionen von Schülern und Schülerinnen, als sie erfuhren, dass Darstellendes Spiel nicht stattfinden würde. Besonders für Kinder der Unterstufen scheint Theater eine Möglichkeit zu sein, verborgene Talente, welche im österreichischen Schulsystem kaum Anerkennung oder Förderung erfahren, auszuleben und weiterentwickeln zu können. Hier holen sich Kinder positive Bestätigung, die sonst verwehrt bliebe. Es verwunderte also nicht, dass auf die Nachricht des neuerlichen Lockdown Tränen geflossen sind.
Doch manche Einschränkung bietet auch Chancen. Bereits seit Mitte Oktober sind die Oberstufen von allen Unverbindlichen Übungen ausgeschlossen. Die etablierte Hackordnung, oft der Altersstruktur der Gruppe geschuldet, brach von einem Tag auf den anderen zusammen. Das Selbstvertrauen der Jüngeren erhielt durch diesen Umstand merklich Auftrieb. Meine anfängliche Skepsis, ob es möglich wäre, mit zehn- bis 14jährigen Jugendlichen ein Stück Jura Soyfers zu inszenieren, wich schon bald einem vorsichtigen Optimismus.
Tatsächlich bewirkte das erste „Reinschmökern“ in den Text einen weiteren Umschwung. Hatten wir die ersten Wochen des Semesters noch mit teils chaotisch anmutenden Übungen und Kennenlernspielen verbracht, wurde nun deutlich, wie sehr die Schüler/innen darauf gebrannt hatten, mit der Arbeit am Weltuntergang zu beginnen. Die Beschäftigung mit dem Text Jura Soyfers und das gemeinsame Ziel ließen eine vorher nicht wahrnehmbare Disziplin und Zielstrebigkeit aufflackern.
Die Reaktionen auf den Text fielen in der Folge deutlich positiver aus, als ich es mir erhofft hatte. Was den Jungschauspieler/innen augenblicklich ins Auge sprang, war die hohe Aktualität des Stoffs, insbesondere in Bezug auf das unzulängliche bis lächerliche Verhalten der Figuren. Meine Anmerkung, dass auch Eingriffe in den Text möglich seien, um die Aktualität und den Gegenwartsbezug des Stücks noch weiter zu erhöhen, führte zu einer Vielzahl von Vorschlägen, auf die ich damals wie auch heute nicht zur Gänze einzugehen vermag.
Die Erarbeitung des Texts mit all seinen zeitgenössischen Anspielungen sowie die Auseinandersetzung mit der tief in den 30er Jahren verwurzelten Sprache wird voraussichtlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Doch hier liegen große Potentiale verborgen, gerade in Hinblick auf interdisziplinäres Lernen.
Dasselbe gilt für die Erschließung der Rollen. Zwar sind auch diese stark in der Zeit Soyfers verankert, doch die überspitzten Darstellungen und das bewusste Spiel mit unterschiedlichsten Stereotypen, welches Jura Soyfer hier zur Meisterschaft brachte, bieten für die Mitglieder einer sehr heterogenen Gruppe jeweils hohes Identifikationspotential. So viel zeigte sich bereits in den bisherigen Proben. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Realisierung des Projekts liegt insbesondere in einer geglückten Zuweisung der Rollen. Dass in Jura Soyfers Weltuntergang bis auf Professor Guck keine eindeutigen Haupt- und Nebenrollen auszumachen sind, erleichtert diese Aufgabe merklich, denn etwaige Eifersüchteleien und Geltungsdrang werden damit umgangen.
Was ist für die kommenden Monate noch zu erwarten? Die größeren Rahmenbedingungen, soviel ist klar, sind weder vorhersehbar noch zu beeinflussen. Sollte ein Ende des Lockdown Anfang bis Mitte Dezember wie angekündigt kommen, werden wir nach Möglichkeit unsere Arbeit sofort wieder aufnehmen. Angesichts der Wochen, die mittlerweile verloren gegangen sind und möglicherweise noch verloren gehen werden, rückt eine „klassische“ Aufführung aber zunehmend in weite Ferne. Üblicherweise bietet Schultheater immer auch die Möglichkeit für fächerübergreifendes Arbeiten, insbesondere was Requisiten und Technik anbelangt. Um damit in Zusammenhang stehende Risiken zu umgehen, wird ein erster Schritt sein, die Produktion in diesen Bereichen so schlank und einfach wie möglich zu gestalten. Weitere Reduktionen sind je nach Situation ebenfalls am Stück selber denkbar. Die Struktur des Textes lässt es vorstellbar erscheinen, vorerst nur Auszüge auf die Bühne zu bringen und das Projekt insgesamt auf einen längeren Zeithorizont anzulegen. Damit hätten die Schüler/innen ihr schauspielerisches Erfolgserlebnis zumindest in abgespeckter Form und Angehörige eine Möglichkeit, die Arbeit ihrer Kinder zu erleben und zu honorieren. Grundsätzlich sind vom Umbau zum Lesedrama, über ein Videoprojekt bis hin zu einer Onlineaufführung viele Varianten denkbar. Für diesbezügliche Anregungen und Erfahrungsberichte wären wir jederzeit dankbar.
Geboren am 24.02.1986 in Lustenau/Vorarlberg
Lehramtsstudium der Fächer Deutsch bzw. Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung an der Universität Wien
Seit 2020 Lehrer am Goethe Gymnasium im 14. Wiener Gemeindebezirk
Seit früher Jungend engagiert in den Bereichen Laientheater und Populäre Musik