Zur Präsenz Soyfers in Italien und zu den Möglichkeiten ihrer Erweiterung

Alessandra Schininà (Ragusa, Catania, Italien)

Die Rezeption der Schriften Jura Soyfers in Italien begann schon 1946 mit der Übersetzung des Dachaulieds, aber erst seit den 1980er Jahren wurden seine Texte umfangreicher ins Italienische übersetzt.  Pionierarbeit leisteten Fabrizio Cambi und Primus Heinz Kucher, die 1982 31 Gedichte Soyfers im zweisprachigen Band Strofe del tempo. Zeitstrophen sammelten und übersetzten, sowie Eugenio Spedicato, der 1988 eine italienische Fassung des Romanfragments So starb eine Partei veröffentlichte. In beiden Fällen handelte es sich um sorgfältige, wissenschaftlich kommentierte Ausgaben und Soyfer wurde auch dadurch in den 90er Jahren von der heimischen Literaturwissenschaft entdeckt und dem italienischen Publikum zugänglich. Am Anfang fanden die Schriften Soyfers eher in wissenschaftlichen Kreisen Verbreitung und waren Anregungen für Diplomarbeiten, Dissertationen, Essays, Artikel in Fachzeitschriften. 1994 gab es eine Tagung in Florenz mit dem Titel Lachen und Jura Soyfer und im selben Jahr erschien das Band Ciminiere fredde (Kalte Schlote), herausgegeben von Bartoli, Cambi und Kucher, der einige journalistische Texte Soyfers enthält. Vineta und Weltuntergang wurden in italienischer Übersetzung erfolgreich aufgeführt (Vineta, 1992 und Weltuntergang, 1994).

Ab den 2000 Jahren wurden Soyfer und seine Werke nicht nur im Kontext der Geschichte und Literatur Österreichs betrachtet, sondern auch in einen europäischen Kontext gesetzt.  Die Theater-Gruppe Parthenos aus Asti im Piemont leistete wertvolle Arbeit zur Verbreitung des Soyferschen Werks auf italienischen Bühnen. Im Jahr 2007 inszenierten die LeiterInnen der Gruppe, Marco Viecca und Daniela Placci, mit den jungen SchauspielerInnen ihrer Theaterschule mehrmals Weltuntergang (La fine del mondo) in Turin, Alessandria, Asti, Genua. Außerdem zeigten sie immer wieder szenische Collagen mit Soyfers Texten und Liedern.  Die Gruppe Parthenos arbeitet in Kooperation mit Gemeinden, kulturellen und sozialengagierten Gesellschaften, Universitäten zusammen. So wurden auch die  Soyfer Aufführungen von Symposien und Podiumsdiskussionen begleitet, die das Werk Soyfers in einem historischen Kontext analysierten und mit den politischen Ereignissen und der Theatergeschichte Italiens konfrontierten.

2011 wurden endlich fünf Theaterstücke Soyfers (Weltuntergang, Lechner Edi, Astoria, Broadway Melodie 1492, Vineta) in italienischer Sprache, in einem von Laura Masi übersetzten und von Hermann Dorowin herausgegebenen Sammelband, veröffentlicht. So konnten Soyfers Texte einem breiten, nicht nur deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung fortschreiten.  2007 fand in Neapel und Salerno eine über das Österreich der Dreißiger Jahre hinaus internationale und interdisziplinäre Tagung statt. In den 600seitigen, 2012 bei Peter Lang veröffentlichten Akten der Konferenz nimmt Soyfer eine zentrale Stellung ein.

Der 100. Geburtstag Soyfers wurde auch in Italien Anlass für eine erneute kritischen Auseinandersetzung mit seinen Schriften. Am 29. und 30. November 2012 fand z. B. in Perugia die Tagung Il poeta della Vienna rossa. Jura Soyfer 1912-1939 statt. Die von Hermann Dorowin und Alessandro Tinterri herausgegeben Akten wurden 2014 veröffentlicht. Im Rahmen der Tagung wurden Weltuntergang und Edi Lechner schaut ins Paradies in Form von mise en éspace in Perugia von Ciro Masella und der Gruppe Uthopia vorgeführt und auch diesmal wurden – neben den StudentInnen – allgemeine TheaterbesucherInnen erfolgreich angesprochen.

2015 erschien bei Liguori ein zweisprachiger Band mit 21 Bild- und Wort-Satiren Soyfers, Herausgeberin Jelena Reinhardt, und wieder einmal gab es Anlässe für Lesungen und interdisziplinäre Auseinandersetzungen.

Soyfers Leben und seine Texte erweisen sich als besonders geeignet, um vor allem ein junges, oft oberflächlich und oft auf nicht besonders anregende Weise informierten Publikum für Themen wie Faschismus, Rassismus, Verfolgung, Exil, Holocaust zu interessieren.

Meine erste diesbezügliche Erfahrung machte ich im Oktober 2007 anlässlich der erwähnten Aufführung von Weltuntergang durch die Theatergruppe Parthenos in Asti. Diese junge Truppe beschäftigte sich monatelang nicht nur mit Soyfer und seinem Stück, sondern auch mit dem geschichtlichen und soziokulturellen Kontext seiner Entstehung. Die sympathische Figur Soyfers, seine Vitalität und sein tragisches, frühzeitiges Ende faszinierte sie. Fast keiner der SchauspielerInnen hatte Deutsch studiert oder kannte sich mit der Geschichte Österreich aus, aber die klaren, einfachen und unterhaltsamen Texte Soyfers öffneten ihnen eine neue Welt. Mit ihrer Begeisterung involvierten sie Verwandte, Freunde, Theater- und Geschichtsexperten, Partisanenvereine und weiter die Gemeinde Asti und die Universität. So wurde die im großen Stadttheater stattfindende Erstaufführung von einem Symposium begleitet. HistorikerInnen, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen sprachen über Soyfer, und weiter über Rassismus, Lager, Exil und antworteten auf die Fragen der neugierigen ZuschauerInnen.

Ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie die Verbreitung des Soyferschen Werks neue transkulturelle Perspektiven eröffnet, kommt aus Süditalien. 2007 veranstalte die Universität Catania eine interdisziplinäre Konferenz über die in Gefangenschaft entstandene Literatur. Ich referierte über Texte, die während der Nazigefangenschaft geschrieben wurden, am Beispiel von Richard Zach und Jura Soyfer. Unter dem Publikum waren auch Schulklassen und mein Beitrag über Kreativität als Überlebungs- und Widerstandsstrategie in den Lagern inspirierte eine Schule, sich mit dem bis dahin noch nie gehörten Namen Soyfers zu beschäftigen. So wurden die Anfangsverse des Dachaulieds, Stacheldraht mit Tod geladen, als Titel einer 2008 im Auditorium des Istituto Tecnico commerciale di Vittoria (Ragusa) stattfindenden Veranstaltung (Reticolati carichi di morte di Jura Soyfer) verwendet. Diese sehr gut besuchte und erfolgreiche Matinee wurde von der Gemeinde Vittoria und von verschiedenen Schulen der sizilianischen Stadt anlässlich der Giornata della memoria (Tag der Erinnerung an die Opfer des Holocausts) organisiert, die in Italien am 27. Jänner jeden Jahres zelebriert wird. LehrerInnen und SchülerInnen lasen Gedichte, Prosaausschnitte und Kommentare von und über KZ-Opfer vor. Ich berichtete über Dichtung und Kreativität in den Konzentrationslagern. Es wurden von Schülern aufgezeichneten Videos projiziert und eine Fotocollage über Völkermorde in der Geschichte gezeigt. Für die musikalische Begleitung sorgte ein kleines Orchester und der Liedermacher Aldo Raffaele spielte und sang seine, für diesen Anlass geschaffene Vertonung der italienischen Übersetzung des Dachaulieds. Auch diesmal erwies sich also die Kombination Soyfer, Erinnerung und Interkulturalität äußerst produktiv.

Wenn nunmehr die Texte Soyfers zu einem guten Teil in italienischer Übersetzung vorhanden sind, ist jedoch der Zugang der nicht oder wenig deutschsprechenden ItalienerInnen zu Informationsmaterialien über Soyfer und rund um ihn noch ein Problem. In dieser Hinsicht wäre eine Erweiterung der Seiten der Jura Soyfer Homepage und des Archivs in italienischer Sprache erforderlich. Die Seiten mit den Übersetzungen sollten z. B. aktualisiert und die Sekundärliteratur in italienischer Sprache oder in Italien veröffentlichten Zeitschriften und Sammelbänden aufgelistet werden . Eine weitere Bereicherung wäre auch den online open access um kritische Texte, Kommentare, Informationen auf italienisch über Soyfer und seine Zeit zu erweitern. Wie erwähnt ist manches in Fachzeitschriften oder Ausgaben nicht leicht zugänglich und ältere Artikel könnten, mit Genehmigung der AutorInnen, im Soyfer Archiv gespeichert werden.

Die Verbreitung der online Didaktik hat gezeigt, wie wichtig es für StudentInnen und DozentInnen ist, fachkundige Materialien im Internet zu finden. Auch für italienische Theaterleute wäre es wichtig, Informationen über Soyfers Theater und seine Rezeption leicht zur Verfügung zu haben. Wie ich erwähnt habe, wurde Jura Soyfer auch in Italien zum Katalysator von transkulturellen und transdisziplinären Begegnungen zwischen Kunst, Geschichte und Aktualität. Soyfer selbst wäre wahrscheinlich keineswegs überrascht. Er hat einst die Schöpfer der Commedia dell’Arte als Vorläufer eines, eigentlich seines lebendigen Volkstheaters bezeichnet: ”Auf den Karnevalsplätzen des frühen Italiens hämmerten sie ihre primitiven Schaubuden zusammen, stiegen auf die Bretter, verhöhnten die Ehebruchsaffären und Schwindelgeschäfte der großen Herrschaften, parodierten das feierliche Gehabe…“

In diesem Sinne, könnte das interkulturelle, polylogische Projekt des Soyfer Archivs das Beispiel einer offenen, nicht nur akademischen, multisprachlichen Plattform sein, in dessen Rahmen sich Literatur, Kunst, Geschichte und Aktualität begegnen, Distanzen und Grenzen überwunden werden (auch die zwischen Wissenschaft und Gesellschaft) und zugleich Ansporn für weitere interkulturelle und mehrsprachige Projekte ermöglicht werden.