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Der Schauspieler ist auch ein "Sprechspieler". Alle Funktionen im Sprechen auf der Bühne zeigen sich auch in seinem Sprechen. Deshalb kann auch die Sprecherziehung künftiger Schauspieler nicht an diesem funktionellen Ganzen vorbeikommen, es sei denn um den Verlust des Sinnes.
Aus allen Überlegungen wird aber weiter deutlich geworden sein, auf welche Weise in dem situativ gesteuerten Verwirklichen von Sprache und menschlicher Beziehung das Sprechen nicht leerläuft oder schönen Ausdruck meint, sondern wie es verknüpft ist mit dem Denken: Wenn der Schauspieler ist, dann ist er auch ein Denkspieler.
Im Grunde ist damit ein entscheidendes Stück der dramatischen Wirklichkeit benannt, denn im Drama entwickeln sich menschliche Handlungen und Schicksale in einer 'Kette von Gesprächen'.
Im Leben ist die Szene einmalig, ist vergangen mit dem letzten Wort; im Spiel wird sie beliebig oft wiederholbar. Im Leben ist sie gebunden an die einmalige Individualität der Gesprächspartner; im Spiel kann sie mit ihrer Wiederholbarkeit durch immer andere Sprecher im Rahmen der mitgelieferten Situation abgewandelt werden.
Gerade dies Wiederholen ist schwierig. Es ist kaum denkbar, daß in der wirklichen Situation der eine zum andern sagt: "Entschuldigen Sie, unser Gespräch ist nicht ganz richtig verlaufen; können Sie bitte noch einmal hereinkommen und von vorn anfangen?" Selbst wenn der Partner nicht wütend davonliefe oder am Geisteszustand seines Gegenübers zweifelte, sondern es noch einmal versuchte: Es käme etwas ganz anderes dabei heraus. Die Veränderung würde noch größer, wenn ein Dritter den Wunsch geäußert hätte.
Schon ein einzelner unbeteiligter Zuschauer oder gar eine Zuschauergruppe verändern den Gesprächsverlauf. Die Verhältnismäßigkeit allen Sprechens zeigt sich hier in neuer Form, denn der Sprechende verhält sich nicht nur zu seinem unmittelbaren Partner, sondern auch zu den Zuhörern, die er gleichzeitig erreichen, auf die er wirken oder gerade nicht wirken möchte.
Hier werden sofort die Besonderheiten des Gesprächs auf der Bühne sichtbar, das ja auch vor Zuschauern geführt wird. Vor Zuschauern, die nicht nur zuhören können, sondern zuhören sollen, die aber dennoch nicht unmittelbar angesprochen werden. Dabei gibt es die bekannten Unterschiede je nach Dramenstil und Bühnenform.
Zwischen historischer Pedanterie und subjektivistischer Willkür liegt der Spielraum möglicher Deutungen, die vermittelt sind vom jeweiligen Werk selbst. Von diesen Überlegungen, die ganze Stücke betreffen, sind die Schauspieler leider oft entlastet. Zwar hat der Regisseur die Interpretation zu leisten, aber der Schauspieler sollte wenigstens seine Rolle im Rahmen des Stückes ganz verstehen. Zumal die modernen Stücke immer mehr von ihm als Denkspieler fordern. Der einzelne Schauspieler ist weiters davon betroffen, weil er nicht nur einen Schillerton, einen Kleistton usf. haben sollte. Ihm werden in unterschiedlichen Engagements z.B. ganz unterschiedliche Schillertöne abverlangt. Außerdem wird er, sofern er nicht in einem Klischee erstarrt ist, im Lauf seines Lebens (selbst an der gleichen Bühne) zu unterschiedlichen Darstellungen auch im Sprechausdruck finden.
Es ist also wenig sinnvoll, dem Schauspielschüler eine klischierte Grundsprechhaltung anzuerziehen, auf die dann je nach Zuschnitt des Lehrers andere Ausdrucksklischees aufgesetzt werden. Da die Gefahr der 'Pedanterie' heute kaum droht, wächst auf der anderen Seite die Gefahr der Ausdruckswillkür. Wenn sie in Grenzen gehalten werden soll, dann muß von Anfang an das Stilgefühl entwickelt oder - falls schon vorhanden - verfeinert werden. Uns interessiert im Zusammenhang dieser Darlegungen nur der Sprechstil. Ehe wir aber auf seine von den verschiedenen Werken geforderte Differenzierung eingehen, müssen zunächst erst die verschiedenen Gesprächsformen dargestellt werden; denn gleichgültig welcher Stilepoche ein Werk angehört, auf der Bühne herrscht das Gespräch, der Dialog. Besser heißt es hier noch: das Dialogische; denn auch die Reden und die Monologe sind hier einzubeziehen, beide sind latent-dialogische Sprechhaltungen. Viele der sonst nur mühsam und äußerlich angelernten Verhaltensweisen wie 'Tonabnehmen', Partnerbezug, Ensemblehaltung erfahren hier ihre Begründung.
In jeder Sprechhandlung kommt demnach sehr viel vom psychischen Verhalten der Sprecher zum Vorschein. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß es - bis auf Ausnahmesituationen - dabei wirklich um mindestens zwei Sprecher geht. Das will sagen, daß bei einer Deutung des Sprechausdrucks nicht nur bei einem Sprecher und seinen individuellen Ausdrucksgewohnheiten angesetzt werden darf. Denn wie der eine auf den andern reagiert, ist immer beeinflußt davon, wie der andere auf den einen reagiert. Das ist erfahrungsgemäß selbst zwischen denselben Menschen zu verschiedenen Zeiten eines Tages und bei verschiedenen äußeren Anlässen sehr verschieden. Es ist nur scheinbar so, daß Sprechpartner stets nacheinander sprechen, daß der eine agiert und der andere daraufhin reagiert. Genauer betrachtet zeigt sich, daß der erste schon so und nicht anders spricht, weil er ganz bestimmte Reaktionen des anderen erwartet, mit ihnen rechnet. Und das geschieht auf beiden Seiten. Sprechpartner verhalten sich demnach 'verhältnismäßig'. Jeder der beiden verhält sich so, wie er meint, daß der andere sich ihm gegenüber verhalten wird. (Dies ist ein Hauptproblem in den Dramen Pirandellos.) Es gibt in dieser Verhältnismäßigkeit unterschiedliche Grade der Bewußtheit. Manche Menschen kalkulieren die Reaktionen des anderen bewußt ein, manche Berufe richten sich ganz darauf ein in ihrem eigenen Verhalten. Aber auch die anderen, die es nicht bewußt tun oder gar als verabscheuungswürdig ablehnen, verhalten sich spontan nicht anders. Um die uns interessierende Sprechwirklichkeit zu fassen, darf man also nicht vergessen, daß es sich um Tatsachen handelt, denen die Sozial-Psychologie auf die Spur zu kommen sucht.
Aber wir müssen noch genauer hinsehen. Zum Beispiel, der eine möchte etwas kaufen, der andere ihm etwas verkaufen; sind es zwei Männer oder Mann und Frau, sind sie gleichaltrig oder ist einer älter als der andere, zu welcher Berufsgruppe gehört der Kunde? Wie verhalten sich beide außerhalb des Verkaufgespräches? Wie spricht der Händler mit dem Vertreter, den Berufskollegen usf.?
Die soziale Wirklichkeit (gegliedert nach Geschlechts-, Verwandtschafts-, Alters- und Berufsrollen) beeinflußt ebenfalls die Sprechweise. Im Extrem zeigt sich das für die Berufsrolle z.B. daran, daß Angehörige eigener Berufe nicht mehr aus ihrer beruflichen Sprechrolle finden: die typischen Lehrerstimmen, Pfarrer-, Offiziers-, Feldwebel-,Vertreter-, Reporter-, Schauspielersprechweisen. Ihr Ausdrucksvermögen erstarrt in der für sie typischen Berufsrolle; bei dem Lehrer klingt dann auch die harmloseste Bemerkung nach Belehrung, bei dem Pfarrer jedes Wort begütigend oder salbungsvoll, beim Offizier schneidig usf. Offensichtlich neigen die Angehörigen der 'redenden Berufe' zu solcher Rollenfixierung.
Es soll hier nicht übersehen werden, daß auch diese 'typischen' Äußerungsformen der Mode und dem Wandel der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Ordnung unterworfen sind. Im Zustand erhöhter 'sozialer Mobilität' sind derartige Erstarrungsformen nicht sonderlich hoch im Kurs. Aber diese Klischees sind auch nur die Extremfälle eines allgemeinen Verhaltens. Man erwartet vom Angehörigen eines Berufs ein 'bestimmtes', wenn auch nicht näher definiertes Sprechverhalten. Jeder wäre z.B. überrascht, wenn der Pfarrer wie ein Reporter spräche, der Reporter wie ein Lehrer, der Lehrer wie ein Schauspieler usw. Außerdem gibt es innerhalb jeder Rolle weitere verschiedene Felder mit unterschiedlichen Verhaltens- und Sprechweisen. Der Regisseur z.B. spricht bei der Probe anders als in der Kantine, mit dem Intendanten anders als mit dem technischen Direktor, mit dem Dramaturgen anders als mit einem Autor, mit dem Inspizienten anders als mit dem Beleuchter usf. Schließen wir diese notwendigen soziologischen Überlegungen ab: Zu den Rollenerwartungen, die an jede soziale Position geknüpft werden, gehört offenkundig auch ein bestimmtes Sprechverhalten. Diese sogenannten 'sozialen Rollen' sind auch Sprechrollen.
Dieser soziologische Rollenbegriff ist deutlich zu unterscheiden von dem der Bühnenrolle. Es geht im alltäglichen Leben nicht darum, ob man eine Rolle spielen will oder nicht - das wäre ein dritter Rollenbegriff -, sondern als Mann, als Weißer, als Alter, als Angehöriger eines Berufs hat einer unvermeidlich alle diese Rollen, ob er sie will oder nicht. Man kann versuchen, ihnen gerecht zu werden oder nicht. Der Schauspieler dagegen übernimmt zu diesen eigentlichen Rollen noch die Verwirklichung gerade solcher Rollen in der uneigentlichen Welt des Dramas. Ob er sich mit ihnen identifiziert oder nicht, ist dabei eine untergeordnete Frage. Er muß sie nicht sein, sondern spielen. Vereinfachend läßt sich vielleicht sagen: Es geht hier um den Unterschied zwischen Lebens- und Spielrollen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß ein Schauspieler eine seiner Spielrollen für sein Leben ernst nimmt und umgekehrt, daß jemand eine seiner Lebensrollen nicht annimmt und z.B. 'Mutter' nur spielt.
In den beiden letzten Teilansichten des Sprechens, der sozial-psychologischen und der soziologischen, kommt aber die Tatsache zum Vorschein, daß es den "Mensch im Singular" eigentlich nicht gibt. Dieselbe Abstraktion zeigt sich auch bei der Bezeichnung "sprechender Mensch". Denn ein sprechender Mensch ist einer sinnvollerweise immer nur da, wo ihm ein anderer zuhört. Soll also verallgemeinert werden, dann muß auf das vergesellschaftete Wesen Mensch abgehoben werden, daß "Mensch und Mitmensch" die menschliche Realität ausmachen. Dieses 'Mit-ein-ander-Sein' liegt demnach fundamental vor aller Durchgliederung in psychisches Verhalten und soziale Gruppierung. Das Miteinandersein von Menschen ist aber gebunden an das Miteinandersprechen.
Jetzt muß noch auf einen weiteren Bereich eingegangen werden, der die ganze Zeit über auch gemeint war, der aber noch nicht ausdrücklich behandelt wurde.
Miteinandersprechen heißt nicht, auf physiologisch gesunde, physikalisch-akustisch oder phonetisch vorbildliche Weise ein 'bla-bla-bla' auszutauschen, das man aus der Fülle des Gemüts noch mit besonderen Reizen durchtönt, sondern unsere Sprecher sagen z.B. mit ihrem simplen Gruß "Morgen!" - "Morgen!" ein Wort aus einer Sprache. Sprechen ist immer Verwicklichen von Sprache. Das gesprochene Sprachzeichen signalisiert dem Empfänger eine bestimmte Information. Bei abgesprochenen Wörtern, wie dieser Grußformel, oder bei häufig vorkommenden Wörtern, 'der, die, das, ein' usf. ist die Informationsmenge gering. Aber dann hilft sich der Sprecher, indem er das abgebrauchte Zeichen mit den sekundären Informationsmitteln, eben den gesprochenen (Ton, Klangfarbe, Verzögerung usf.) wieder neu auflädt. Das einzelne Zeichen, erkennbar an seiner Lautgestalt - 'der' und nicht 'die' , verweist aber auf etwas außer ihm. Noch deutlicher wird das bei den "Zigaretten"; denn das Wort kann der eine nicht verkaufen und der andere nicht rauchen. Dabei sollte nicht übersehen werden, daß Wörter ihre Geschichte haben und im Lauf der Zeit ihre Bedeutungen wandeln, Bedeutungen verlieren und wieder neu gefüllt werden können. Sie stehen oft abkürzend für ganze Denkprozesse, wie etwa ein im Gesprächsverlauf eingeworfenes "sondern". In diesem Prozess spiegelt sich, daß jeder Sprechende entscheidende Stücke seiner Welt-und Lebenserfahrung seiner Sprache verdankt. Im Erlernen der Wörter lernt er Welt kennen und begreifen. Nur mit ihrer Hilfe kann er sich auch abwesende Dinge vergegenwärtigen, Vergangenes erinnern, Abstraktes denken.
Mit der Darlegung der Funktion der Wörter greift die Betrachtung aber noch zu kurz. Das kommt zum Vorschein an der Melodie, mit der diese Wörter gescprochen werden. Im ausformulierten Satz werden die Wörter nach bestimmten, meist unbewußt benutzten grammatischen Mustern zusammengefügt. Hinzukommt die Satzmelodie, die die einzelnen Wörter ihrer Wichtigkeit abstuft, und erst in dieser Verknüpfung entsteht der volle Satzsinn, der etwas anderes ist als die Summe der einzelnen Wortbedeutungen. Nehmen wir einen Satz und verändern die Melodie, dann ändert sich der Sinn:
IST das Ihr Sohn, Herr Mayer? Ist DAS Ihr Sohn, Herr Mayer? Ist das IHR Sohn, Herr Mayer? Ist das Ihr SOHN, Herr Mayer? Ist das Ihr Sohn, HERR MAYER?
Wortlaut, grammatische Fügung und Satzmelodie machen zusammen erst den Satzsinn aus, in dem der Sprecher das verschlüsselt, was er im Augenblick meint, und den der Hörer entschlüsselnd verstehen muß. An dieser Stelle, im 'Wie' des Sprechens, kommt zum Vorschein, was der einzelne über die über ihn verhängte Denkwelt seiner Sprache vermag. Hier in der von der Sprechsituation gesteuerten Sprechweise gibt er den überlieferten Zeichen aus seiner Individualität ein Stückchen neue Deutung mit. Dies geschieht, vorsichtiger sei gesagt: kann geschehen in jeder Sprechsituation; der spontanen, in der jeder seine Sätze selber formuliert und eigenen Sinn zum Ausdruck bringt - und der reproduzierten, in der Sätze von einem anderen formuliert wurden, wie beim Vorlesen oder im Spiel.
Versuchen wir festzuhalten, worum es geht:
Sprechen ist immer Sprechen von einem mit einem anderen. Beide begegnen einander nicht im luftleeren Raum, sondern in genau beschreibbaren Situationen. In diesen geschichtlichen Situationen begegnen beide einander als Träger ganz bestimmter sozialer Rollen. In diese Begegnung und in ihre Rollenerfüllung, die vom jeweiligen Partner abgewandelt wird, bringen sie ein, was sie selber in bezug auf gerade diesen Partner sind und was sie an sich selbst sind. Dieses von der Situation (Partner, Rolle, Ort, Zeit, Gegenstand) gesteuerte Miteinandersprechen ist aber als Miteinander-Sprechen immer schon geprägt von der Sprache, die da gesprochen wird; ihren Wortinhalten, ihren Satzbauplänen, ihren Intonationsmustern, ihrer Art, Welt sehen zu machen. In dieser Sprache wird abhängig von der Situation miteinander über etwas gesprochen: über einen Gegenstand, über den Hörer, über den Sprecher usf.
Formelhaft zugespitzt heißt das: Ausgangs- und Zielpunkt aller beim Sprechen geltenden Überlegungen ist 'der mit anderen in seiner Sprache (über etwas) sprechende Mensch'. Erst von hier aus bekommen alle vorher dargestellten Einzelansichten über 'Sprechen' ihren Stellenwert.
Wie überall im Alltag, so enfaltet sich auf der Bühne ein Gespräch aus Fragen und Antworten. Der Fragende öffnet seine Verschlossenheit schon in seiner puren Höflichkeitsfrage, z.B. "Wie geht es Dir?" Er räumt so dem Angesprochenen eine Begegnungsmöglichkeit ein, die er anderen vorenthält. Das setzt eine andere Zuwendungsweise, eine veränderte Haltung voraus. Wer fragt, zeigt damit an, daß er noch nicht sicher weiß, wie es um den anderen steht, wie es sich mit einer Sache verhält. Er ist vorher an eine Grenze gekommen; die Grenze seiner Person oder die des anderen, mit dem er sprechen, von dem er etwas erfahren möchte - die Grenze seines Wissens. Im Fragen aber überschreitet er diese Grenze. Er sucht teilzunehmen am anderen oder ihn teilhaben zu lassen an sich selbst, sucht sich klar zu werden über etwas. Darin zeigt sich letztlich noch deutlicher, wie sehr der eine auf den anderen angewiesen ist, um sprechend zu sich selbst, zu Einsicht und Wissen zu gelangen. Selbst die erstarrten formelhaften Höflichkeitsfragen bringen noch Spuren dieser Grundhaltung zum Vorschein. Deutlicher zeigt sie sich in Mitleidsfragen, Sachfragen, Entscheidungsfragen; in der Suggestivfrage ist das andere Extrem erreicht. Die Unabgeschlossenheit der Frage wird angezeigt in der veränderten Tonführung.
Beim Spontansprechen ist dieser ganze Sachverhalt unproblematisch. Mit der entsprechenden Situation, der eigenen geistigen und seelischen Verfassung, dem anzusprechenden Partner ist die Fragehaltung und die Art der Frage gegeben. Worte und Stimmführung stellen sich partnerbezogen ein. Beim reproduzierenden Sprechen liegt der Wortlaut bereits vor, folglich müssen Fragehaltung und Frageart aus dem Text und der gespielten Situation erschlossen werden. Im Nachvollziehen des Sprechdenkprozesses der darzustellenden Figur ist aus deren Worten und mit deren Worten die Frage zu erfühlen. Da gibt es keine allgemeingültige Anweisung: Fragen nimmt man so und so, oder das Einüben bestimmter Fragetöne. Das einzige, was hilft, ist, das eigene Sprechdenken und das eigene Hörvermögen so zu verfeinern, daß es mit dem Spielen aus der Vorstellung von den größeren Bewegungsabläufen getragen wird.
Im alltäglichen Umgang genügt es, wenn man diese unterschiedlichen Fragen einfach 'fragt'. Es wird nicht verlangt, daß man darum weiß. Der Schauspieler muß sie aber in der Sprechwirklichkeit der Spielsituation bewußt zur Verfügung haben. Folglich muß er zunächst einmal um diese Unterschiede wissen. Noch wichtiger ist aber, daß er sie heraushören lernt. Damit kann nicht früh genug in der Ausbildung begonnen werden, und zwar auch in alltäglichen Situationen, etwa in der Gruppe der Schüler. Die Differenzierung des Gehörs - und sie gelingt vor allem durch gründliches und kritisches Zuhören - ist eine Voraussetzung der Differenzierung des Sprechausdrucks. Wer nicht hörend - und das meint für Wortverständnis zugleich wieder: verstehend - unterscheiden lernt, wird auch auf der Bühne allzuleicht nur sprechen, wird versuchen, mit einem oft beträchtlichen Repertoire angelernter, gleichsam erstarrter Töne auszukommen.
Darüberhinaus ist etwas anderes, ob man jemanden anspricht oder an einem vorbei spricht, ob man sich über etwas ausspricht oder ob man 'sich ausspricht'. Es gibt offensichtlich unterschiedliche Weisen des Hörerbezugs. Diese Zuwendungs-weisen prägen nicht nur den äußeren Abstand, Haltung, Bewegung, Mimik, sondern mit ihnen zugleich die Sprechweise. Der Schauspieler muß in den meisten Fällen das Kunststück vollbringen, zweierlei gleichzeitig zu verwirklichen: den unmittelbaren Bezug zum Spielpartner und den nur höreroffenen Bezug für die Zuschauer im Parkett. Gelegentlich sind beide Weisen vertauscht, wenn sich einer der Mitspieler an der Rampe unmittelbar an die Zuschauer wendet und der Mitspieler dann ein Auch-hörer ist oder einer, an dem 'vorbeigesprochen' wird.
Beim Erzählen sind ganz andere sprecherische Mittel einzusetzen als beim Berichten. Der Erzähler wendet sich seinen Hörern zu, er bezieht sie ein, er sucht den Abstand zu verkleinern, er spricht mit dunklerer Stimme (bezogen auf den individuellen Stimmumfang), langsamer, mit verhältnismäßig großen Pausen, in denen er die Reaktionen seiner Hörer abwartet. Je nach der Wirkungsabsicht des Erzählten rückt die belehrende Funktion (z.B. Nathans Ringparabel) oder die emotionelle (z.B. 'Märchen' der Großmutter im "Woyzeck") in den Vordergrund. Aber in beiden Fallen ist die Wirkung abhängig von der Person des Erzählers. Beim Berichten rückt dagegen die Sache zwischen den Berichter und die Zuhörer. Das Interesse der Hörer gilt dem Bericht, nicht dem Berichterstatter. Er kann schneller sprechen, härter mit kürzeren Pausen, schärfer akzentuiert, staccato, höher.
Der Schauspielschüler sollte sich in diesen Formen zunächst in seiner Spontansprache üben; d.h. er sollte z.B. etwas erzählen, eine Aussicht schildern, eine Reportage geben, über ein Erlebnis berichten, ein anderes Mal über seinen Sachverhalt; wenn möglich vor unterschiedlich vertrauten Zuhörergruppen. Auf diese Weise könnte er in seiner Sprechweise die Unterschiede im Ausdruck erfahren. Damit lernt er die notwendige Differenzierung seiner Mittel, zum andern die unterschiedlichen Bezugsweisen zu seinen Hörern, die in gesteigerter Form bei den großen Reden von ihm verlangt werden. Diese Reden selbst wird er dann aus der Rollenhaltung entwickeln, obwohl auch hier die sprecherische Nachgestaltung - immer vorausgesetzt, daß sie richtig gelehrt wird - manche Vorteile bringt. Gedacht ist dabei an die großen Gerichts-, Lehr-, Fest-, Staatsreden und an die Predigten, die oft wichtige Funktionen in den Stücken ausüben. Auch hier wird dem Sprecher intensive Hör-Erfahrung zugute kommen. Das Angebot an Reden ist nicht klein, es gibt schlechte und gelegentlich auch gute. Merkwürdig bleibt, daß die Bühnenreden so oft nach Kopien der schlechten Reden aussehen. Für die Reden in den Stücken genügt aber auf keinen Fall das Nachahmen 'rhetorischen Gebarens'. Das Nachkonstruieren des Denk-Sprechprozesses des darzustellenden Redners im eigenen Sprechdenken ist hier wie überhaupt entscheidend. Dabei gibt es je nach Redegegenstand, Hörerschaft, psychologischer Motivierung und Redeziel wieder Unterschiede im Redestil, die sich keineswegs in einem typischen Redeton, z.B. einem salbungsvollen Predigtton, erschöpfend darstellen lassen. Wichtiger als diese Verfestigungsweisen der Sprechform einer sozialen Rolle ist für die Rede ihre sprachliche Gestalt. Der sprecherische Redestil ist vorgeprägt vom Sprachstil. Zu beachten sind z.B. Satzlänge, Fragen, ausdrückliche Anrede der Hörer, ober- und unterschichtige Gedankenführung, verwendete Bilder usw. Daraus ergeben sich Sprechgeschwindigkeit, Pausenfüllung, Richtungswechsel, Tonwechsel, Lautstärkeabstufungen, Klangfarbennuancen. Gemeinsam ist allen Reden, daß sie ausdrücklich die bestehende Lage verändern wollen. Das erklärt einmal ihre Funktion im Drama, das erklärt zum zweiten ihre unmittelbare Wirkungsabsicht auf die angesprochenen Hörer; denn diese sollen als Mithandelnde gewonnen werden.
Während so die dialogische Haltung für die Reden leicht zu erweisen ist, bleibt zu fragen, wie es damit bei den Formen monologisierenden Sprechens steht. Meistens schließt man aus der Tatsache, daß hier nur einer allein auf der Bühne ist, es werde kein anderer angesprochen. Aber dieser von der äußeren Wahrnehmung abgeleitete Schluß auf die Sprechhaltung ist nur scheinbar richtig. Greifen wir zunächst den häufig vorkommenden Fall heraus, daß in einer Szene ein Brief geschrieben wird. Gewiss ist der Partner nicht leibhaft anwesend, aber doch ganz deutlich in der Vorstellung. Für ihn werden die Gedanken formuliert, seine Reaktionen werden einbezogen, in den Pausen überdacht. Während das Schreibdenken im Alltag nicht laut vor sich geht, sondern still, mit einer schwächeren Innervation der Sprechwerkzeuge, muß es auf der Bühne für die Zuschauer hörbar gemacht werden.
Wer die vielfältigen Gesprächsformen auf der Bühne überschaut, der wird fragen, welche Voraussetzungen ein Sprechspieler mitbringen muß, um diesen Anforderungen gewachsen zu sein. Wie steht es mit dem, was man seine 'Sprechtechnik' nennt?
Da der Ausdruck 'Sprechtechnik' gerade durch derartige Praktiken belastet ist, soll als Obertitel das Wort 'Sprechbildung' gewählt werden, das ja auch in den Namen der einzelnen Bereiche vorkommt: Atembildung, Stimmbildung, Lautbildung, und das außerdem von der wissenschaftlichen Sprechkunde seit langem zur Bezeichnung dieses Gebietes verwendet wird.
Zum Schluß, sollen noch einmal die Einsichten festgehalten werden:
Der Schauspieler stellt Menschen dar. Zum Menschen gehört es wesentlich, daß er sprechen kann. Der Schauspieler ist ein Sprechspieler. Im Sprechen wird Hörern Sinn vermittelt. Ohne Denken gibt es im Sprechen keinen Sinn. Der Schauspieler ist insofern ein Denkspieler. Auf der Bühne geht es nicht um sein eigenes Sprechdenken. Er muß den Sinn nicht produzieren. Der Wortlaut des Textes im Handlungsrahmen der Sprechsituation des Stückes liefert den Sinn. Der Schauspieler als Sprech-Denk-Spieler muß diesen Sinn reproduzieren. Die Sinnreproduktion geschieht primär für den hörenden Partner auf der Bühne, sie geschieht dialogisch. Die Sinnreproduktion ist also zugleich Sinnvermittlung. Die Sinnreproduktion geschieht sekundär (aber gleichzeitig) für den Zuschauer im Parkett. Auch hier ist die Sinnreproduktion zugleich Sinnvermittlung.
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