Nr. 03/2000

Künstlerische Strategien im Zeitalter der Massenkommunikation

Ulf Birbaumer (Wien)

Wir alle kennen den Vierzeiler, den Horváth auf jene Zigarettenschachtel gekritzelt hatte, die bei seinen Sachen gefunden wurde, als ihn der Wahrsagerinnenspruch einholte, demzufolge ihn in Paris die Entscheidung seines Lebens erwartete.

Was falsch ist, wird verkommen,
auch wenn es heut regiert.
Was echt ist, das soll kommen,
auch wenn es heut krepiert.

Ödön, der die Hitlerei haßte, bei jeder Gelegenheit jüdische Witze erzählte und im ethnisch durchgemischten Kaffeehauspublikum sich so recht zu Hause fühlte, der sich autobiografisch immer als eine österreichisch-ungarische Angelegenheit ansah, spricht hier mit einem Anflug von Realutopie den Zeitgeist an und seine mögliche Überwindung. Er ist kein Kämpfer wie Soyfer, der in Agitpropmanie - allen Weltuntergangsvisionen zum Trotz - die schöne Aura der Erde erzwingen will. Doch beide vertrauten sie auf das Echte, was immer darunter zu verstehen sein mag. Aber bei aller Liebe zu den damaligen neuen Medien, zum Film und zum Radio, und bei allem Glauben daran, daß diese Medien im Sinne von Brechts Radiotheorie demokratisierbar seien - und in der Tat gibt es bis heute zahlreiche Verifizierungen der These - vertrauten sie auf ihre Texte und auf ihre Rezeption durch die Lektüre einerseits, durch die Umsetzung ins Kommunikationsmedium Theater (oder Kabarett) anderseits, also nicht auf ihre mögliche "technische Reproduzierbarkeit" (Walter Benjamin), sondern auf die direkten anthropologischen Möglichkeiten der szenischen Realisierung, basierend auf der Körperlichkeit ihrer beiden Grundsäulen: dem Schauspieler und dem Zuschauer, der Grundkonstellation des Spektakels. Ich verwende den italienischen oder den französischen Begriff, weil er mehr Breite signalisiert als Theater.

Um den zunehmenden Standard der technischen Reproduktionsmöglichkeiten von Kunst zu Beginn des Jahrhunderts zu unterstreichen, zitiert Walter Benjamin prophetische Worte von Paul Valéry:

Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen, einstellen und uns ebenso wieder verlassen.1

Und Abel Gance soll 1927 enthusiastisch ausgerufen haben: "Shakespeare, Rembrandt, Beethoven werden filmen... Alle Legenden, alle Mythologien und alle Mythen, alle Religionsstifter... warten auf ihre belichtete Auferstehung, und die Heroen drängen sich an den Pforten."2 Benjamin sieht das wie einen Aufruf "zu einer umfassenden Liquidation"3, denn, "noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks." (Hervorh.d.A.)4 Und dadurch verkümmert etwas, sagt Benjamin - nämlich seine Aura. Inzwischen begnügen sich die meisten mit einem Videomitschnitt der Theateraufführung: als Doku-Material zur Rekonstitution der Aufführung ist das ganz o.k., zum studium, wie Roland Barthes sagt. Es taugt aber nicht als Ersatz zum punctum, wo es darum geht, die Aufführung im heißen Moment der Aktion in den Griff zu bekommen und dabei die konkrete Erfahrung zu machen, was den Zuschauer durch die Dynamik des Spiels emotional wie kognitiv betroffen macht, wie er reagiert auf die Vielfältigkeit und Gleichzeitigkeit der szenischen Zeichen oder Symbole. Der live-Charakter des, nennen wir es einmal spectacle vivant ist durch keine technische Reproduktion ersetzbar. Andere wiederum befassen sich nicht einmal mehr mit der historischen Rekonstitution von Theater, sondern sie spielen einfach Theater im Internet und behaupten, daß die Virtualität die Realität sei.5

Doch zurück zu Theater als Kommunikationsprozeß. Anne Ubersfeld hält fest, daß die Theateraufführung ein System von verschiedenen Zeichen darstellt, das im großen und ganzen einem Kommunikationsvorgang gleichkomme, weil sie eine komplexe Reihe von Sendern umfaßt, die in enger Verbindung miteinander stehen und weil sie eine Reihe von Botschaften vermittelt, und das ebenfalls in enger, komplexer Verbindung entsprechend ihrer äußerst präzisen Codes, die einem multiplen Empfänger mitgeteilt werden. Der allerdings befindet sich an ein und demselben Ort. Wichtig ist dabei wie gesagt die konkrete Erfahrung des Zuschauers im jeweiligen Moment der Aufführung, die punktuelle, emotionale wie kognitive Einbeziehung in die Dynamik des Kommunikationsfeldes Theater. Der Vorgang ist gekennzeichnet durch möglichst hohe Interaktivität, Interdependenz und Dynamik. Wenn im Titel von künstlerischen (theatralen) Strategien die Rede war, die im Zeitalter der technischen Massenkommunikation anzuwenden seien, dann heißt das nicht, daß jede Form von Theater gleichermaßen strategisch geeignet erscheint, die potentiellen Zuschauer von ihren Bildschirmen - TV oder PC - wegzulocken. Mit dem Guckkastentheater, der "boîte à l'italienne", mit der nach der Renaissance auftretenden Asymmetrie von Leben und Theaterspielen wird man bald keinen Hund mehr hinter dem Ofen vor-, oder keinen Durchschnittsbürger von seinen Bildschirmen und technischen Vernetzungen weglocken können. Da hat die Erschütterung des Tradierten durch die Technologie schon gegriffen wie es Benjamin vorhergesagt hat. Nein, es muß schon ein "anderes Theater" sein wie es auf den Plätzen, auf den Jahrmärkten, wie es in den Schaubuden und auf den Pawlatschenbühnen existierte und immer noch besteht. Ein Theater, ein kontemporanes Spektakel, daß der genannten Asymmetrie die Symmetrie zum Alltagsleben entgegensetzt: ein théâtre hors des murs (also außerhalb der Mauern), ein - wie der Nobelpreisträger Dario Fo es nennt - teatro fuori dai teatri, ein Peripherietheater, ein Quartiertheater, ein théâtre en marge, also am Rande, das aber gleichzeitig ein théâtre en marche ist, in Bewegung (Chérif Khaznadar, Direktor der Maison des Cultures du Monde in Paris): Aktions- und Interaktiontheater, Interventionstheater, politisches, kritisches Volkstheater, Straßentheater, das "dritte Theater" (Barba) - Spektakelformen, die, gekennzeichnet durch Interkulturalität und Intersoziabilität, immer aufmüpfig waren, subversiv, kämpferisch gegen die Hegemonie einer einzigen Macht, einer einzigen Gesellschaftsschicht oder gar einer einzigen Kultur. Auch wenn ich hier immer wieder die Bedeutung der Zeitgenossenschaft wiederhole - diese Formen von spectacle vivant haben natürlich wie das traditionelle affirmative Theater ihre Geschichte, nur daß sie oft unterdrückt oder aus Mangel an Zeugnissen nicht oder nur in Teilbereichen geschrieben worden ist.

Man hat also schon zu früheren Zeiten, ohne die Konkurrenz der technischen Medien, versucht, Theater durch Publikumsnähe und Symmetrie zum Alltagsleben attraktiver zu machen: von der spätmittelalterlichen Farce, der arte giullaresca über die Commedia dell'arte und das Théâtre de la Foire bis hin zum russischen Revolutionstheater und zum Theater des Dario Fo reicht das Spektrum. Und das gilt nicht nur für den russischen Theateroktober, auch im Vorfeld der französischen Revolution wurden dramaturgisch ähnliche Gedanken entwickelt, etwa von Mercier 1773, den ich kürzlich in den Zusammenhang mit der vielfältigen Agitprop-Theaterpraxis stellen konnte. Ich zitiere hier nur einen Satz aus der Eingangspassage seines "Nouvel essai sur l'art dramatique":

Vergrößert diesen engen Saal, verdoppelt die Bänke, reißt die Scheidewände nieder; vergönnt dem großen Haufen den Eintritt, laßt ihn diese Logen füllen; der unabsehliche Zusammenfluß des Volks wird den schmachtenden Schauspieler anfeuern, dem Drama eine neue Wärme leihen ...6

Ich habe bei der Gelegenheit versucht, Zusammenhänge zu den Vorstellungen von Jura Soyfer herzustellen, der das Näherrücken zu den Zuschauern fordert, die so mit ihrem Theater in fortwährender Wechselbeziehung stehen sollen. Näherrücken ist gefragt, die Zweiwegkommunikation im Sinne der brechtschen Radiotheorie, die Einbeziehung des Publikums, die bis zu einem "Theater ohne Publikum" gehen kann in der Zielgruppenarbeit des Armand Gatti oder in den Produktionen des Grotowskischen Theaterlabors in Wroclaw.

Greifen wir nochmals in die Theatergeschichte zurück, wenn auch durchaus im Zusammenhang mit Dario Fo. Er beruft sich ja auf den giullare, den Spielmann (die Spielfrau ?... etwa in der dramatischen Fabel vom "Flattermäuschen"), der auf den Plätzen mitten im Jahrmarktstreiben stand und historische, aber vor allem aktuelle, kritische Geschichten erzählte, oft auch spielte und so als das einzige alternative Informationsmedium gelten konnte, im Gegensatz stehend zu den öffentlichen Ausrufern, die die offizielle Politik verkündeten (etwa, wann wer seinen Zehent abzuliefern habe...). Fo sieht sich als zeitgenössischer giullare und hat in vielen seiner Politfarcen auch den Beweis dafür erbracht, offenbar so überzeugend, daß 1997 das Nobelpreiskomitee dieses Faktum und, politisch interessant, seinen Einsatz für die Entrechteten und Ausgebeuteten auch in die Begründung aufgenommen hat.

Weiters beruft sich Fo natürlich auf die Commedia dell'arte und ihren Vorläufer, den Dichter Beolco, der die sozialkritische Figur des Ruzzante geschaffen hat. Kein Wunder, wenn Fo in diesem Zusammenhang das Niederreißen der 4.Wand fordert, die Laufer der Renaissance selbst von etablierten Truppenprinzipalen vor Hof eingezogen worden war (Andreini beispielsweise). Ein Mittel zur ihrer Zerstörung sieht er im sog. a parte, wenn also im Beiseitesprechen sich der Schauspieler (und somit auch der Autor) direkt an den Zuschauer wendet. Und Rudolf Münz hat schon recht, wenn er unlängst in Zusammenhang mit Fo darauf verweist, daß die mittelalterliche arte giullaresca und die renaissanceverbundene Commedia dell'arte (all'improvviso, a soggetto etc.) zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Das zeigt sich in seinem gesamten Oeuvre, das als Musterbeispiel gelten kann dafür, welche künstlerischen Strategien heute zielführend sind, um das Publikum zu fesseln: dezentrale Produktionsweise, das Herausgehen aus dem Theater und das Zugehen auf ein oft theaterungewohntes Publikum - und dies alles auch mit anderen Mitteln der Volkstheatertradition als nur die schon genannten: diverse Lazzi, etwa den des Grammelot, das verwirrende Charivari der Farce, die Überzeichnung ins Groteske, das Eingehen auf die Zuschauer schon vor einer Aufführungsserie (Problematisierung vor der Dramatisierung, wie sie vor allem auch Franca Rame vor der Erstellung ihrer gemeinsam mit Fo geschriebenen Frauenstücke vorgenommen hat), aber vor allem auch nach den Vorstellungen, mit dem dazugehörigen vierten Akt des Gesprächs und ev. des Festes (Grätzelfest würden wir hier in Wien sagen). Gerade Franca pflegt das direkte Ansprechen des Publikums, wenn sie sich plötzlich vor die Zuschauerinnen hinsetzt und im Erzählton fragt: "Sagt einmal, geht es euch nicht auch so ?" Und dann mit einer spezifischen Frauengeschichte beginnt. (Die Szene aus "Nur Kinder, Küche, Kirche" trägt den bezeichnenden Titel "Wir haben alle die gleiche Geschichte".) Es ist hier nicht der Platz, alle angerissenen Strategien mit Beispielen7 zu belegen, möglich wäre es selbstverständlich.

 

ANMERKUNGEN

1 Paul Valéry: Pièces sur l'art. Kap.: La conquête de l'ubiquité. Paris o.J. S.105. Zit. n.: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt/Main 1977, S.11.

2 Abel Gance: Le temps de l'image est venu. In: L'art cinématographique II. Paris 1927, S.94-96. Zit n.: Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S.14.

3 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S.14.

4 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a.a.O., S.11.

5 Vgl. Patrice Pavis: L'Analyse des spectacles. Paris 1996, S.11f.

6 Louis-Sébastien Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Leipzig 1776. Zit. n.: Klaus Lazarowicz u. Christopher Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart 1991, S.578f.

7 Vgl. dazu: Ulf Birbaumer: Schöne neue Theaterwelt. In: TRANS.Nr.6. WWW: http://www.inst.at/trans/6Nr/birbaumer.htm und: Ulf Birbaumer: Armand Gatti und das "univers concentrationnaire. In: Herbert Arlt u. Klaus Manger (Hrsg.): Jura Soyfer (1912-1939) zum Gedenken. St. Ingbert 1999 (=Österreichische und internationale Literaturprozesse, Bd.7), S.255-270.

 

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