Nr. 03/2000

Soyfers "Vineta" im Türkischen als Hörspiel

Gertrude Durusoy (Izmir)

Das Thema der versunkenen Stadt wurde 1937 - wie bekannt - von Jura Soyfer als Stoff für ein Theaterstück verwendet: "Vineta".1 Vineta, angeblich ein Märchen, eine im Mittelalter verschwundene Stadt, versunken mit Haus und Mann ohne aber dem üblichen Tod zu verfallen. Vineta, eine mit den Augen Jonnys erlebte Stadt. Im Stück erwähnt Jura Soyfer diesen paradoxen Zustand in einer Bühnenangabe: "Jonny, jetzt ein Fünfziger; seine Frau sieht aus wie am ersten Tag." (S.192.) Die Transposition der Handlung von der Hafenkneipe nach Vineta, also mindestens fünfhundertundachtzehn Jahre zurück, ermöglichte es dem Autor, eine Distanz in der Zeit, einen Abstand zur bedrohlich wirkenden Gegenwart zu gewinnen.

Der heute auch beim Übersetzen surrealistisch wirkende Text wird im Rahmen dieses Beitrags auf drei Ebenen betrachtet: das Verständnis der lebenden Toten Vinetas; die Modalitäten der türkischen Übertragung und die Bearbeitung des Theaterstückes als Hörspiel.

In der Tat ist Vineta das, was der Untertitel besagt, - eine versunkene Stadt - aber sie ist mehr als das, sie ist "die Stadt des Vergessens", wie sie Soyfer scheinbar beiläufig im Laufe des Stückes nennt (S.185). Dies ist der psychische und metaphysische Ansatz zum Verständnis der "versunkenen" Welt. Denn damit sind die Bewohner Vinetas Menschen, denen es möglich ist, außerhalb der Zeit bzw. ohne Zeit zu leben; dadurch spielt in ihrem Leben weder gestern noch morgen eine Rolle. Diese Enthebung aus der Zeit ist ein gewaltiger literarischer Einfall, der auf einer tiefen Kenntnis der menschlichen Psyche beruht. Gleichzeitig - und im Falle Soyfer ganz zufällig - entspricht diese literarische Bearbeitung des Vergessens den pathologischen Erscheinungen der Alzheimerkrankheit. Das Erinnern existiert nicht mehr und nur der Augenblick ist entscheidend. Dadurch bedauert in Vineta niemand die gute, alte Zeit. Jonny ist der einzige Mensch, der alles versucht, um den Kontakt zu seiner Vergangenheit als Taucher wieder herzustellen, bis auch er dem Vergessen verfällt. Es ist aber hier zu bemerken, daß der damals fünfundzwanzigjährige Soyfer von der Existenz solcher Symptome einer Nervenkrankheit kaum eine Ahnung gehabt haben konnte!

Ein anderer wichtiger Einfall ist die Tatsache, daß Soyfer die Zeitlosigkeit mit der Gefühlslosigkeit verbindet, indem er das Verfahren des Vergessens einsetzt. Dieser psychische Prozeß ist es, der die Handlung bestimmt und darstellt. Weder lieben noch hassen zu können, dies ist das Los der Bewohner Vinetas, deren Benehmen dadurch gleichgültig bzw. künstlich wirkt. Nur Jonnys Wünsche reflektieren noch das Leben als solches und die Diskrepanz zwischen dem Verhalten der Vineter und demjenigen Jonnys reflektiert die Distanz zwischen Leben und Tod schlechthin.

Das starre Wunschlose, das rein formell Wirkende sind Ausdrücke einer Lebensform, wo die Menschen marionettenhaft handeln, ohne sich auf die geringste Weise zu engagieren. Aus ihrem Wortschatz ist das Verb "erinnern" gestrichen worden, so auch aus ihrem Handlungskatalog. Die Welt Vinetas verfügt über eine eigene Logik, wo nicht die geringste Aufregung vorkommt, wo die Wiederholungen nicht lästig wirken, weil im Gedächtnis gar nichts mehr festgehalten wird. Das Vergessen ist kein eigentliches, aktives Vergessen, es ist nur die totale Abwesenheit, das Ausfallen von Erinnern, also von der Funktion selbst des Gedächtnisses. Weder Gedanken noch Gefühle werden angesprochen bzw. in Anspruch genommen. Diese Funktion der menschlichen Psyche ist in "Vineta" gelöscht, genau so wie bei den Kranken, die das Erinnern bzw. die jüngsten Ereignisse nicht mehr kennen und irgendwo in der Vergangenheit verbleiben, weil im Gehirn gewisse Zellen abgestorben sind.

Das Erste was Jonny befremdet, ist das Verhältnis der Vineter zu den Uhren, Sonnenuhren selbstverständlich: "Darum führt eure Uhr auch so verrückte Tänze auf. Hat die Richtung verloren... Aber die Zeit ist für mich sehr wichtig." (S.181.) Er merkt, daß in dieser Stadt das Leben nur in gewissen Schranken möglich ist - "ordnungsgemäß" - und diese Einengung wirkt auf den Taucher sehr befremdend. Er entdeckt auch das "Nie": "Wenn ein Schiff gestern geht, so geht es nicht heute und nicht morgen."(S.183.) Das bedeutet eigentlich Hoffnungslosigkeit. Das Roboterhafte im Benehmen der Frau Geheimrat durch den verbalen Fluß verwirrt den noch "weltlich" reagierenden Jonny.

Jura Soyfer integriert meisterhaft die metaphysische Dimension in sein Stück; u.a. in der Szene der Einbürgerung Jonnys durch den Stadtschreiber, indem der letztere von den konkreten "Papieren" zur Frage "Warum wollen Sie leben?" (S.187) übergeht, und da stottert unser Held: "Ich - ich weiß nicht - ich glaube - ich habe gekämpft - ich - ich habe geliebt - gehaßt - " (S.187). Plötzlich findet sich Jonny mit der Fragestellung nach dem Sinn des eigenen Lebens konfrontiert, einer Problematik, die ihm fremd war, so daß er "nicht weiß", weshalb er lebe.2 Trotzdem stellen wir bei ihm einen hartnäckigen Willen zu leben fest, den er im 5. Bild die Bettler anschreiend verkündet: "Ja, ihr sanften Vollidioten, ich will leben. Ich weiß nicht mehr, warum, wozu, für wen, weil ich das alles hier bei euch vergessen habe. Aber verdammt, ich will es trotzdem"(S.188) oder im vorletzten Bild: "Ich will leben! Leben! Leben! Laß, ich brauch Luft! Luft! Luft! Luft!"(S.198.)

Das Tauchen, als Jonnys Beruf, bekommt nun eine philosophische Färbung, und zwar ist das nicht bloß der Kontakt mit dem Meeresgrund mit seiner versunkenen Stadt, sondern es handelt sich um das Tauchen in die Tiefen des eigenen Ichs. Der Kontakt mit Vineta wirkt wie ein Katalysator auf Jonny, denn alle Nebensächlichkeiten des Lebens sind verschwunden, es geht um die nackte Existenz, um das Sinnvolle versus Sinnlose eines jeden Tuns. Jonny erklärt es in seinem Gespräch mit dem Gefangenen, den er aufrütteln möchte, damit er sich seines Bewußtseins bediene:

Es gibt eine Welt, die anders ist. Dort wechseln Tag und Nacht, und es wird Frühling und Winter und wieder Frühling; Stürme ziehen, Sonne scheint; Korn wird gesät, geerntet und neu gesät - ohne Ende. Menschen werden geboren, wachsen wie das Korn. Weil sie ein unruhiges Herz mitgekriegt haben, müssen sie lieben und hassen, solange sie da sind, und sie werden alt und sterben. Und neue Menschen werden geboren zum Hassen, zum Lieben, zum Altwerden, zum Sterben - ohne Ende. Und dies alles hat keinen anderen Sinn als sich selbst. Aber das ist ein großer Sinn, denn er heißt : Leben. Verstehst du?" (S.197)

Der Existentialismus war schon durch das Absurde der Existenz in Vineta zum Ausdruck gekommen, wie es der Stadtschreiber formulierte: "Vineta ist tot, aber Vineta weiß es nicht. Komischer Zustand, nicht? Wir leben nicht, und wir können nicht sterben. Wir altern nicht, wir hassen nicht, lieben nicht, fürchten nicht. Wir kämpfen um nichts mehr, wir erhoffen nichts." (S.191.) Der Stadtschreiber, der auch als der einzige denkende Mensch auftritt, klärt aber absichtlich die Vineter über ihren Zustand nicht auf, denn er erlebt die Angt. Er versucht sich bei Jonny durch diese Angst zu rechtfertigen: "[...] weil ich Angst hab - [...] Vor dem Unausdenklichen, das dann geschehen würde - [...] - was dann noch kommen mag - dieses allerletzte Nichts - das ahn’ ich kaum - und doch, ich hab’ Angst davor - " (S.191.)

Eine andere Dimension, die man im ganzen Stück verfolgen kann, die aber in der Schlußszene ihre Krönung erlebt, ist die Warnung vor dem Zeitgeschehen. Wenn man bedenkt, daß das Stück 1937 geschrieben worden ist, da ist eindeutig, daß die Sturzflut, die Vineta von den Landkarten gestrichen hat, die Metapher des Kriegs überhaupt bildet. Der alte Matrose will in der Person der jungen Prostituierten die Welt überreden:

Da müssen wir doch alle unsere ganze Kraft dransetzen, wir alle und sofort, daß die Sturzflut nicht kommt, und dann wär’s doch sehr eilig, denn man könnte ja auch nicht wissen, wann sie kommt. Ob sie nicht vielleicht schon ganz nahe ist, vor der Tür von dem Drecklokal da vielleicht. Und das wäre zum Fürchten, wie, Mädelchen? (S.199.)

Hier wurden einige Aspekte das Stück betreffend hervorgehoben, weil es vor jedem Übersetzungsversuch notwendig ist, den Originaltext mit seinem kulturellen, zeitlichen, räumlichen Kontext zusammen zu betrachten. Dies gilt besonders für Übersetzungen in Sprachen, wo schon so etwas Gewöhnliches wie Glockengeläute ohne jegliche religiöse Konnotation aufgefaßt wird. Außerdem kommt hier hinzu, daß man sich beim Übertragen in die Art und Weise des Reagierens der vergessenden Menschen hineindenken muß, um Soyfer gerecht zu werden. Das Roboterhafte und Gleichgültige bzw. Gefühllose der Figuren muß in der Zielsprache ebenso gleichgültig und gefühllos wirken. Dort wo keine emotionale Färbung vorkommt, darf sie in der Übersetzung auch nicht auftauchen. Auch der Übersetzer muß sich in die Welt ohne Erinnern versetzen und diese seine Grundhaltung wird ihm behilflich sein, den irrational wirkenden Gehalt gewisser Repliken in die Fremdsprache richtig zu übertragen; er wird nicht versuchen, durch stilistische Mittel die im Text vorhandenen Wiederholungen in der Zielsprache irgendwie zu reduzieren. Für den bei Soyfer so fließenden Übergang vom Konkreten ins Philosophische muß in der Fremdsprache ein entsprechend natürlich wirkender Übergang gefunden werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Wiedergabe der Soyferschen Ironie.

Betrachten wir nun konkret anhand einiger Beispiele welche Art von Schwierigkeiten bei der Übersetzung ins Türkische aufgetreten sind. Schon bei den Namen der Personen mußte nach Lösungen gesucht werden. Die Wirtin Änne kann man im Türkischen nicht mit dieser Rechtschreibung beibehalten, denn der Doppelkonsonant "n" im Namen wird mit anne (Mutter) assoziiert, so daß ich mich für die phonetische Transkription Ený entschieden habe, indem ich aber anne hinzugefügt habe, weil es die übliche Anredeform für Frauen ist, wenn sie in einem gewissen Alter sind. Außerdem versteht man in einem deutschsprachigen Kontext, daß Änne ein Frauenvorname ist; im Türkischen ist das nicht selbstverständlich - vom Laut her -, da auch diese Sprache über keinen Genus verfügt, garantiert der Einschub der Anredeform anne hinter Ený ein vollständiges Verständnis der Situation Kunde und Wirtin.

Der andere Name, für den der Übersetzende eine Lösung finden mußte, war Lilie. Dieser Blumenname wird in der westlichen Kultur mit Reinheit, mit der weißen Farbe, mit Jungfräulichkeit assoziiert. Nun wenn wir für Lilie Zambak, also das türkische Wort der Blume, einsetzen würden, so hätte es wenig mit Soyfers Einstellung zu tun, denn in einer Stadt wie Vineta lebte kein türkisches Mädchen. Außerdem wird in der türkischen Kultur der Lilie nicht dieselbe Metaphorik beigemessen, so daß das Einsetzen von Zambak aus diesen beiden Gründen falsch wäre. Die deutsche Rechtschreibung von Lilie wird auf Türkisch als Liliä ausgesprochen, so daß ich mich für die dem deutschen Klang am nächsten stehende Lilye Graphie entschieden habe. Das ermöglicht besonders im Hörspiel die treue Wiedergabe des deutschen Namens in seinem Wortlaut. Dadurch daß die Konnotation Lilie/Reinheit sich nicht vollständig mit derjenigen in der Zielsprache deckt, werden die Anspielungen des lustigen Senators vor der Hochzeit Jonnys mit Lilie im Türkischen nicht dieselbe Wirkung erzielen; immerhin wird im Kontext des 6. Bildes das Wort zambak verwendet, wenn der Vater sagt: "Du bist eine Lilie. Verstanden?" (S.189.)

Die beiden Senatoren bilden ihrerseits auch eine kulturelle Abweichung. Im Kontext von Vineta handelt es sich um Stadtsenatoren; das im Türkischen vorhandene Wort senatör bezieht sich ausschließlich auf den Senat im Parlament des Landes. Dies bedeutet, daß ich im Türkischen den geläufigen Begriff für die von den beiden Senatoren ausgeübte Funktion eingesetzt habe, nämlich meclis üyesi.

Wenden wir uns einem anderen kulturbedingten Begriff zu, dem Glockengeläute. Hier liegt die Schwierigkeit nicht im Begriff selbst, den man mit çan sesleri ohne weiteres übersetzt. Im Deutschen wie im Türkischen wirkt das Glockengeläute aus der Tiefe des Meeres befremdend, im Deutschen, weil es nicht wie üblich von einem identifizierbaren, sehbaren Glockenturm, sondern vom Meeresgrund her ertönt und im Türkischen, weil ein Glockengeläute gar nichts impliziert. Nur Menschen, die in einer christlichen Umwelt verkehrt haben, kennen dieses Geläute und seine Bedeutung. Der Ruf der Glocke aus der Tiefe beängstigt Jonny nicht, obwohl er ihn als befremdend empfindet. Dieses Kulturem, das auf die Einladung zum Gottesdienst deutet, wird im Laufe des Stückes ab und zu aufgenommen und weiterverfolgt, indem u.a. der Bettler und die Bettlerin im 5. Bild vor dem Dom auf die Kirchenbesucher warten, die aus dem Dom kommen und beim Ausgang ihnen etwas spenden werden. Der Dom wurde im Türkischen durch das aus dem Französischem entlehnte und in der Sprache geläufige Wort katedral übertragen. Das Benehmen der Armen ist - meines Erachtens - in jeder Kultur ähnlich, ja universal, denn unabhängig von der Religion und der Art des Gebetshauses bzw. Heiligtums sammeln sich oft in der Nähe bedürftige Menschen, die auf die Barmherzigkeit derjenigen Bürger hoffen, die ihre Religion ausüben: "Wenn die Bürgersleute rauskommen, sind ihre Herzen weich" (S.188), meint Jura Soyfer. In diesem besonderen Zusammenhang gibt es keine Schwierigkeit beim Übersetzen. Trotz der mangelnden Assoziation im Falle des Glockengeläutes wurde auf eine erklärende Fußnote verzichtet.

Die Ironie mit der Jura Soyfer die plötzliche philosophische Entwicklung des Stadtschreibers im 9. Bild schildert, läßt sich ohne weiteres auch im Türkischen wiedergeben. "Eine Philosophenschule hat sich um mich geschart. Wir nennen uns den Vergessenskreis."(S.194.) Der Untertitel wird in der Zielsprache ebenso unverständlich wie im Original aufgesetzt, um das Spiel Soyfers mit leeren Begriffen zu zeigen.

Kulturbedingt wirkt die Szene beim Senator mit Frau und Tochter. Sie soll die Sitte der Vergangenheit schildern, wo die Töchter einfach verheiratet wurden, ohne eine Ahnung zu haben von dem, was Ehe bedeutet. Lilie versichert einerseits ihrer Mutter, daß sie Jonny "aus ganzer Seele, aus ganzem Herzen" (S.189) liebt, andererseits versichert sie ihrem Vater, daß sie "nicht im geringsten" weiß, was Liebe ist. Diese paradoxe Situation läßt sich wortwörtlich ins Türkische übersetzen, wo sie genau denselben Effekt auf den Leser, Zuschauer bzw. Hörer hat. Das Drohende des Vaters, indem er auf das Lilienhafte seiner Tochter anspielt, ist für einen islamischen Kulturkreis ohne weiteres verständlich und immer noch aktuell, weil die Jungfräulichkeit der Braut die Ehre der Familie bedeutet. Der roboterhafte Gehorsam und das Papageihafte der Tochter, als Zeichen der Unterwerfung, wirkt in einem türkischen Umkreis nicht so übertrieben wie in einem deutschsprachigen.

Anhand einiger Beispiele wurde versucht zu zeigen, daß der Text von Jura Soyfers "Vineta" auch in einer anderen Kultur wie der türkischen eine Resonanz finden kann, obwohl sich gewisse Kultureme oder Situationen nicht vollständig decken.

Nun möchte ich einige Bemerkungen zur Bearbeitung des Theaterstückes als Hörspiel machen. Da "Vineta" das erste Stück Soyfers in türkischer Version ist und da ein reges Interesse für Hörspiele im Lande vorhanden ist, habe ich beschlossen, den Text auch in Form eines Hörspiels zu verfertigen.3 Das Schwierigste dabei bestand darin, das Künstliche bzw. Gleichgültige im Benehmen und Aussagen der Figuren auch im Hörspiel bemerkbar zu machen. In diesem Falle sind sowohl die Wortwahl im Text wie auch der Tonfall beim Vortragen von besonderer Bedeutung. Man denke an die Szene, wo Jonny und seine Frau im Garten sitzend sich unterhalten: er, aufgeregt trotz seiner fünfzig Jahre, weil er am folgenden Morgen an die Front muß, sie ganz gelassen und wie immer ziemlich roboterhaft. Er fragt sehr menschlich: "...Bist du nicht traurig, daß ich in den Krieg muß?" Sie antwortet sehr spontan und automatisch: "Gewiß doch nein, im Gegenteil!" (S.193.) Die Angst, seit zehn Jahren nicht geliebt zu sein, muß bei der Übersetzung spürbar werden. Die Unbesorgtheit und Kühle von Lilie ebenso. Kein besonderer Pathos darf bei den Vinetern auftreten, keine besondere Aufregung eingebaut werden; das Nüchterne der Zeitlosigkeit und eventuell das Langweilende im Zusammenleben können hervorgehoben werden.

Im Hörspiel verschwindet außerdem das Visuelle, d.h. die Aufteilung in Bilder; Übergangsmusik wird nun eingesetzt. Der Schwerpunkt wird selbstverständlich auf die akustischen Effekte verlagert, was die größten Abweichungen vom Theaterstück darstellt. Besonders in der Kneipe am Anfang werden Geräusche eingeschaltet; bei der Bettlerszene am Dom wird Orgelmusik hörbar. In der Szene mit dem Soldat wird sogar Blashorn eingesetzt - als Aufruf zum Kampf. Alle Bühnenangaben im Laufe des Stückes werden in akustische Effekte verwandelt, die die Hauptträger eines Hörspiels bilden.

Wie schon oben erwähnt, stellt der Tonfall eines der wichtigsten Elemente der Hörspielaufführung dar. Im Falle von "Vineta" kann auch das Gefühllose, das Marionettenhafte der Figuren ohne Erinnerung nur akustisch zum Hörer gelangen, das bedeutet, daß die vergebenen Rollen so wenig menschliche Beteiligung wie möglich in ihren sprachlichen Ausdruck legen. Der Verfremdungseffekt muß über die Rundfunkwellen das Publikum erreichen, das seinerseits auch in das Zeitlose, Gefühllose versetzt werden muß. Es muß spüren, welchen Effekt die Sturzflut bzw. der Krieg auf die Menschheit haben kann.

Bei der Umarbeitung des Stücks in eine Hörspielfassung wurde aus dem Text weder eine Stelle gekürzt noch weggelassen. Meiner Ansicht nach, ist Jura Soyfers "Vineta" sowohl für die Bühne als auch für den Funk geeignet. Die bei der Übersetzung auftauchenden Schwierigkeiten bezogen sich weniger auf die Sprache als solche, sondern vielmehr auf das kulturelle Ambiente, das sich im Deutschen und Türkischen nicht völlig deckt.

 

ANMERKUNGEN

1 Jura Soyfer: Vineta. In: Horst Jarka (Hrsg.): Szenen und Stücke. 2.Auflage. Wien 1993. Im laufenden Text wird nach dieser Ausgabe zitiert werden.

2 Die Leichtigkeit des Übergangs vom Konkreten zum Abstrakten erinnert an Franz Kafkas Verfahren in der Erzählung "Die Strassenbahn".

3 An dieser Stelle will ich Frau Aygül Ordu vom TRT (Türkischer Rundfunk und Fernsehen) - besonders was die technischen Aspekte der Hörspielkunst betrifft - meinen Dank aussprechen.

 

Nr. 03/2000

Webmaster: Peter Horn    |    last change 30.6.2000