Dagmar Kot'álová (Bratislava) [BIO]
Berge im Kontext der slowakischen Romantik
Für meine Beschäftigung mit diesem Thema sprach zum Einen, daß ich sowohl mit meinem Geburts- als auch mit meinem heutigen Wohnort der Donauebene bzw. dem nördlichen Teil des Wiener Beckens, dem sog. Marchfeld entstamme, wo Berge im Sinne von Mittel- und Hochgebirge nicht zum Gesichtskreis der Bewohner gehören. Dafür weite Auen und Wiesen, die von klein auf ein spezifisches Raum- und Lebensgefühl vermitteln. Und somit ein anderes als Bergregionen wohl. Zum Anderen bildet die Ebene - neben der Donauebene gehört ganz im Südosten der Slowakei auch die Ostslowakische Ebene dazu - alllerdings nur ein Viertel bis Fünftel des Landes aus, der Rest ist bergig mit Gipfeln bis über 2600 m Höhe. Indem darüber hinaus vor allem die beiden Ebenen multiethnisch besiedelt wurden, neben Slowaken hauptsächlich von Ungarn und Deutschen, identifiziert sich der national bewußte Slowake eher mit der Berglandschaft als dem ihm eigenen und ihn prägenden Lebensraum. Dieses Bewußtsein ist es auch, das in dem Emanzipationsstreben des slowakischen Volkes eine wichtige identitätsstiftende Rolle spielt.
Es bestehen somit - selbst in dem so kleinen, mehrheitlich von Slowaken bewohnten Teil Europas - bis heute zwei verschiedene Raumwelten, deren unterschiedliche Spezifika sich auch in dessen Kultur, man könnte beinahe sagen Kulturen, demonstrieren. Trotz mächtiger Einwanderung slowakischer Bevölkerung seit Ende des Zweiten Weltkrieges vor allem in die Hauptstadt Bratislava hinein und einer massiven "Slowakisierung"des ganzen Landes glaubt man bis heute zwei verschiedene Weltanschauungen wahrzunehmen, die, so wage ich zu behaupten, seit 1989 bis in die politischen Geschicke unseres Landes hineinreichen und sie mitgestalten, um nicht zu sagen, mitkomplizieren. Unter diesem Aspekt betrachtet ist das Thema der Berge im slowakischen Kulturkontext also recht aussagekräftig.
Ich konzentrierte mich in meinen Untersuchungen auf die romantische Epoche, die in der slowakischen Literaturgeschichte die Zeit von 1840 etwa bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein umfaßt, d.h. die Zeit unmittelbar vor, während und nach der Revolution, und hauptsächlich durch lyrische Produktion repräsentiert ist. Es ist die Zeit der eigentlichen Anfänge einer eigenständigen slowakischen Literatur und Kultur im Ganzen, die sich in der eigenen, erst 1843 offiziell kodifizierten slowakischen Sprache kundtut und das slowakische Volk somit inmitten der benachbarten Völker und Ethnien als völlig eigenständig und daher auch als selbstverwaltungsfähig und -berechtigt betrachtet. Dieses Streben nach Autonomie, das für die Romantiker trotz ihrer intensiven revolutionären Anstrengungen in diesem Sinne ohne Folgen blieb, begleitete die Slowaken verständlicherweise - mehr oder weniger versteckt - in den nachfolgenden 150 Jahren, bis es 1993 - zum Leidwesen der Einen und zur Freude der Anderen - in der Teilung der Tschechoslowakei und in der Entstehung des slowakischen Staates letztlich doch politische Früchte trug.
Dieses Nichteinverstandengewesensein mit der Teilung des eher kosmopolitisch gesinnten Teils unserer Bevölkerung differenziert im nachhinein auch den Blick auf die nationalautonomistischen Bestrebungen seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Beide Seiten, sowohl die Nationalisten als auch die Kosmopoliten laufen im Zuge der gegenwärtigen politischen Entwicklungen und entsprechend ihren eigenen Wünschen, was die Zukunft der Slowakei betrifft, Gefahr, das Vergangenheitsbild subjektiv zu verzerren. Um mir selber daher für die nachfolgenden Interpretationen der zurückliegenden Kulturepoche eine möglichst distanzierte und somit vielleicht auch eine objektivere bzw. neutralere Ausgangsposition zu schaffen, wählte ich eine Beschreibung der Sachlage der Slowaken aus dem Jahre 1886, die ich im alten Brockhaus-Lexikon fand. Die Slowaken werden dort als "slawische Bewohner des nordwestlichen Ungarns" bezeichnet, deren bereits im 9. Jahrhundert zusammen mit den mährischen Nachbarn zustande gebrachtes Großmährisches Reich durch den Einbruch der Magyaren im Jahre 907 vernichtet wurde und deren Literatur in neuerster Zeit - es geht im Text um die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts - , wie es heißt, "unter der gewaltsamen Unterdrückung der Magyaren leidet"1. Diese so beschriebene Lage scheint sich im wesentlichen nicht von jener vor weiteren 50 Jahren zu unterscheiden, als im Zuge der slowakischen Sprachkodifizierung - davon weiß das Brockhaus-Lexikon übrigens nichts Konkretes - nicht nur erste Literaturwerke, Zeitungen, Zeitschriften auf Slowakisch entstehen, sondern auch weitere nationalemanzipatorische Ansprüche - in erster Linie gegenüber Ungarn - angemeldet werden. Um diese Zeit geht es mir in meinem Beitrag vor allem, da der Kampf um nationale und kulturelle Eigenständigkeit und der dominierende Landschaftscharakter des slowakisch besiedelten Raumes, so meine ich, im engen Kontextzusammenhang stehen.
An die 30 000 von insgesamt 70 000 km2 des Westkarpatenmassivs befinden sich in der kaum 40 000 km2 großen Slowakei. Die Spitzen und Wände des höchsten Gebirgszugs, der Hohen und Niederen Tatra, bestehen aus Gneisgranit2, einem harten Gestein, das neben der Höhe der Berge in der Wahrnehmung der Slowaken ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Immer wieder geht es in Gedichten unserer romantischen Dichter um das Land zwischen der Tatra und der Donau, wie es heißt, wenn sie vom Land der Slowaken sprechen, damals dem sogenannten Oberungarn. Was bedeuten ihnen die Berge nun im Konkreten, wie, in welchen thematischen Zusammenhängen nehmen sie sie in ihrem Werk wahr?
Bei der Beantwortung der Frage beschränke ich mich auf die vier bekanntesten Dichter, die neben einigen anderen nach L'udovít túr, der leitenden Gestalt der nationalkulturellen Wiedergeburtbewegung der Slowaken in jener Zeit als túrovci, als die sogenannten túr-Gruppe bekannt sind. Was ihre Gedichte im wesentlichen auszeichnet, ist der volksliedhafte Ton der gerade erst geborenen slowakischen Literatursprache, der am besten dem Selbstbewußtwerdungsprozeß des einfachen, in dieser Kulturregion damals einfachsten und ärmsten Volkes mit dessen Bedürfnissen, Freuden oder doch eher Leiden entgegenkommt.
Bevor ich zum Schluß auf ein nicht nur der túr-Gruppe gemeinsames Thema näher eingehe, das mit slowakischen Bergen wesentlich zu tun hat, versuche ich deren Wahrnehmung und Rolle im Werk jedes der vier Dichter zumindestens kurz zu umreißen.
Samo Chalupka (1812-1883) war der älteste und zugleich Bahnbrecher der volksliedhaften romantischen Poesie in slowakischer Sprache. Nach Anfängen im antikisierenden Klassizismus bzw. bereits Vorromantismus in tschechischer Sprache beginnt er schon zehn Jahre vor der Sprachkodifizierung slowakische Poesie zu schreiben. Ihr, vor allem Chalupkas Reimkunst, wird innerhalb der Gruppe der höchste Wohlklang zugeschrieben3. Drei Themen stimmt er in seinen Gedichten immer wieder an: den Freiheitskampf, sein Vaterland und die eigene Nation. Hervorgehoben wird dabei von seinen Kennern, daß für Chalupka die Topografie seiner slowakischen Heimat, Berge und Flüsse, eine große Rolle spielen. Sie sprechen von seinem topografischem Patriotismus4. Bereits in den tschechischen Gedichten äußert er tiefe Zuneigung und Verbundenheit mit der ihn umgebenden Landschaft. So in einem Sonettfragment "O Vy hlasy Tatry zvavé" (O ihr Stimmen der Tatra), wo er die gewaltigen Stimmen der Tatra-Berge um Widerhall seiner Sehnsüchte bittet, oder im Gedicht "Má otcina" (Mein Vaterland), in dem er seine Heimat als reich mit Naturschönheiten beschert und deren Volks als ebenso felsenfest wie das alte Tatragebirge besingt. Hier klingt bereits sein Wille an, in den Kampf zu fliegen, wie er schreibt, und für ein freies Vaterland seiner Enkel zu sterben. Zu erwähnen ist, daß sich Chalupka 1831 am polnischen Aufstand selbst beteiligt haben soll. Immer wieder wird von ihm diese Kampfbereitschaft verkündet, wobei er immer von neuem die Stärke und das Äußere der Slowaken von dem bergigen Charakter der Landschaft ableitet, von der Natürlichkeit einer Tatra-Tanne, wie es z.B. im Gedicht "Slovák, várny Slovák" (Ein Slowake, ein fescher Slowake) heißt. Man kann sicherlich am Hintergrund der heroisch anmutenden Berglandschaft von Chalupkas wiederholter Idylisierung des Slowakenbildes sprechen, begründet in dem Schmerz über dessen Unfreiheit und Zurückgebliebenheit. In solchen Zeiten trauert die mächtige Mutter Tatra um ihre geknechteten Kinder und hüllt sich in dunkle Gewitterwolken ein, die einerseits Zeichen der Traurigkeit sind, andererseits den bevorstehenden, vom Dichter beschworenen Befreiungskampf anzudeuten scheinen. So im Gedicht "Smútok" (Die Trauer). In dieser schwer ertragenen Lage beginnt dem Dichter nicht nur die ruhmreiche, weil freie Vergangenheit des erwähnten Großmährischen Reiches durch die dunkle unfreie Gegenwart hindurch zu leuchten, sondern auch die zurückliegenden, ebenfalls immer wieder idealisierten Siegeszüge der Slowaken gegen alle ihre Unterdrücker, ob Römer, Türken oder Ungarn. Diesen Themen sind einige der bekanntesten Gedichte Chalupkas gewidmet: "Bolo i bude" (Es war und wird wieder), "Mor ho!" (Vernichte ihn!), "Boj pri Jelave" (Die Schlacht bei Jelava), oder "Bombura" (Bombura). Auch hier sind hohe Berge Symbole der slowakischen Widerstandskraft bzw. es klammern sich an sie des Dichters Sehnsüchte nach deren Wachrüttelung. Im Gedicht "Es war und wird wieder" wünscht er sich, daß sich die Slowaken eine vergleichbar herausragende Stellung unter den Völkern zurückerobern, wie sie sie im Großmährischen Reich im 9. Jahrhundert hatten bzw. wie herausragend sich der 2494 m hohe Berg Kriván in der westlichen Hohen Tatra ausnimmt. Insgesamt spielt gerade dieser Berg Kriván als Symbol der nationalen Erhebung im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Im August 1841 fand der erste der vielen nachfolgenden, zur Tradition gewordenen Nationalaufstiege auf den Kriván statt, damals angeführt von L'udovít túr. Als Erinnerung unter anderem an den antifaschistischen Kampf der Slowaken 1944 war er nach dem zweiten Weltkrieg mit einem Partisanenfeuer im Vordergrund als slowakisches Nationalsymbol im Staatswappen der Tschechoslowakei abgebildet.
In Chalupkas wohl berühmtestem Gedicht "Vernichte ihn!" fliegen die Tatra-Adler, sprich die wie Tannen gewachsenen und wie Felsen harten und stolzen slowakischen Söhne des einstigen Ruhms, wie der Dichter sie bezeichnet, in die Donauebene herunter, um dem römischen Kaiser als Zeichen des Wohlwollens Brot und Salz anzubieten, zugleich aber auch ihre Nichtbereitschaft zu demonstrieren, sich von ihm in die Knie zwingen zu lassen. Gleich darauf fallen sie opferwillig im Freiheitskampf gegen den sie beleidigenden Römer.
Im allgemeinen verhält es sich mit den erwähnten zwei Landschaftscharaktern so, daß die die Freiheit bedrohenden Feinde der Slowaken - historisch richtig - immer wieder aus dem Süden, aus der Ebene kommen - Römer, Türken und natürlich Ungarn, wie schon gesagt, wie in den anderen erwähnten Gedichten -, so daß sich ihnen die Slowaken zusammen mit den sie umgebenden hohen Bergen in den Weg stellen und sie mit Hilfe ihrer scheinbaren Kraft erfolgreich bekämpfen. Sie, die Berge, sind eine Art topografischer Bezugspunkt, die schützende und zugleich den heldenhaften Charakter vermachende Mutter, eine nationale Identitäts- und Kraftquelle.
Lassen Sie mich nun zum zweiten Dichter übergehen, zu Andrej Sládkovic (1820-1872). Ich kann wiederum nur kurz das Thema der Berge in seinem Werk berühren. Sládkovic begann Ende der 30er Jahre ebenfalls zuerst auf Tschechisch Poesie zu schreiben und galt bald als der Ton angebende und auch kunstvollste, über die Prosa der freudlosen Gegenwart erhabenste slowakische Romantiker. Ähnlich wie Chalupka war er als evangelischer Pfarrer einerseits tief fromm, andererseits stark durch Hegels Philosophie geprägt. Philosophische Überlegungen spielen daher in seiner Poesie eine wichtige Rolle, das Allgemeinmenschliche sucht er dabei über das Eigennationale zu fassen. Liebe, Sittlichkeit und in ihr gründende Schönheit sind ihm höchste Prämissen, sie schreibt er als Veranlagung dem besten Kern seines Volks zu. Somit auch das Recht auf ein besseres und glücklicheres Leben in Freiheit. Während für Chalupka vor allem die Topografie des slowakisch besiedelten Raumes von Bedeutung ist, umfaßt Sládkovic öfters den gesamten slawischen Raum mit ihn umgrenzenden geographischen Angaben. Dabei spielen in erster Linie berühmte mächtige Gebirge eine Rolle, so neben der slowakischen Tatra das Riesengebirge in Böhmen, der Ural in Rußland oder die der Tatra vergleichbar hochgebirgige und danach bezeichnete Balkanregion Montenegro (Cierna hora). Diese Gebirgsketten scheinen bei ihm das Slawentum als ein ethnisches Ganzes geographisch zu umfassen. So z.B im Gedicht "Na mohyle tefana Záhorského"(Auf dem Grabhügel von tefan Záhorský). Er schaut sich jedoch auch noch in weiterer Ferne um. Neben nationalen bzw. slawischen Themen verarbeitet er immer wieder religiöse Motive, wo ihm als Bezugspunkte wiederum ganz bestimmte, auch aus der Bibel bekannte Orte bzw. Berge dienen, die mit der Geschichte des Christentums, in erster Linei des östlichen - mit dem Slawentum tief verflochtenen -, verbunden sind: der sich an der armenisch-türkischen Grenze erhebende Berg Ararat etwa oder Oreb und Sinai auf der gleichnamigen Halbinsel und immer wieder Zion, dem der schon erwähnte slowakische Kriván angeglichen wird: so in dem schon erwähnten Gedicht oder in "Lipa cyrilometodejská" (Die Linde von Cyrillus und Methodius). In Anlehnung an Chalupka kann man bei Sládkovic hier, so glaube ich, von einer Art Glaubenstopographie sprechen, wobei die gezogenen Vergleiche bzw. Eingliederungen der slowakischen Heimat in größere Kontexte immer wieder Ausdruck seiner Sehnsucht nach Zugehörigkeit, ja Vergleichbarkeit kulturhistorischer Leistungen sind, was von den seit tausend Jahren unfreien Slowaken natürlich erst erhofft werden kann.
Von den slowakischen Bergen sind ihm vor allem die Tatra und der Kriván besonders wichtig, daneben der sagenumwobene Berg Sitno über der Stadt, wo er während seiner Gymnasialstudien zur patriotischen Gesinnung erwachte, und Pol'ana, ein Berg, der in einem seiner zwei bedeutendesten Poeme eine wichtige Rolle spielt. Dabei sind ihm Berge nicht nur Orte physischer Kraft und charakterlicher Festigkeit, sondern auch Metaphern der dichterischen Freiheit, der intellektuellen, philosophischen Distanz, Überschaubarkeit, des Lichts der Erkenntnis und des Glaubens. Sie sind ihm die erträumten lichten Höhen des Daseins, die ihn vor der dunklen Prosa des traurigen slowakischen Alltags retten. Zugleich befähigen sie ihn, den Sehenden, zur Hilfe in Form der Erkenntnis der Wahrheit. So z.B. in den Gedichten: "Otciny mojej spevy"(Die Gesänge meines Vaterlandes"), "Mládenec"(Der Jüngling) oder "Mladému poetovi" (An einen jungen Poeten). In diesem Sinne identifiziert sich Sládkovic ähnlich wie seine Dichterkollegen immer wieder mit den Bewohnern der Berge, dem Adler und dem Falken, die, so wie er, "fliegend" auch andere Welten bewohnen.
Einen gleichsam idealen jungen Slowaken, wie er gerne gehabt hätte, daß sie alle wären, bildete er in seinem lyrisch-epischen Poem "Detvan" (Der Jüngling aus Detva) aus dem Jahre 1853 ab. Die Handlung ist in die Regentschaft des Matthias Corvinus in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verlegt, eines im Unterschied zu des Dichters grundsätzlich negativer Einstellung gegenüber dem Unterdrücker Unganrn sympathisch gezeichneten ungarischen Königs, der dem slowakischen Volk in der Person der Hauptgestalt ebenfalls Sympathie und Anerkennung für dessen Fähigkeiten entgegenbringt. Dieser junge Slowake, der zum Schluß leider in des Königs Armee endet, ist ein wahrer Sohn der eindrucksvollen slowakischen Landschaft, vor allem des Berges Pol'ana, der sich über seinem Geburtsort Detva erhebt. Mitten in der Feldarbeit geboren erblickt er als erstes den mächtigen Berg und wird selbst wie alle Männer aus dieser Gegend ein schöngewachsener Riese. Dazu ein redlicher, gesitteter junger Mensch, so wie Sládkovic Schönheit immer mit Sittlichkeit und Rechtschaffenheit verbindet. Der Berg wird somit zum Vorbild für menschliche Qualität, die auch diesmal mehr herbeigedichtet als real existent ist.
Gegen welch traurige reale Gegenwart solche Wunschbilder ihrerzeit anzukämpfen versuchten, bezeugen auch genug andere Gedichte des Dichters. Somit ist auch er ein romantischer Visionär, der, wie es im Gedicht "Mládenec" (Der Jüngling) heißt, über die Erlösung seines Vaterlandes nachsinne, in die Dörfer herunterfliege, um - dichtend - seine Absicht, seine Vision zu verwirklichen.
Von dem dritten der von mir gewählten Romantiker behauptet sein Dichterkollege Milan Rúfus, er sei ein seiner Nation zuvorgeborenes Genie, ein Universalgeist europäischen Formats5. Tatsächlich scheint Janko Král'(1822-1876), so sein Name, mit seinem Intellekt, mit der Komplexität seiner Weltwahrnehmung, seiner Elementarkraft unter den Zeitgenossen seinesgleichen zu suchen. Er ist ein rebellischer Aufrührer seines Volkes, zugleich einer der schärfsten Kritiker von dessen schläfriger Ohnmacht. Auch Král' beteiligte sich an revolutionären Aktivitäten, kam sogar, zum Tode verurteilt, für einige Monate ins Gefängnis. Ohne tiefer auf sein Werk einzugehen, versuche ich anhand einiger weniger Gedichte die Spezifik seiner Beziehung zu den ihn umgebenden Bergen zu umreißen.
So wie andere Völker ihre Heimat und einen König haben, meint er im Gedicht "Tri vrky" (Drei Hügel), mit dessen Titel er sich auf das Wappen der Slowakei bezieht - drei Hügel mit einem goldenen Doppelkreuz auf rotem Grund - so habe auch der Slowake sein eigenes Land: die Tatra, sein Festland, wie er schreibt, und die Donau als Grenze zum "Unteren Land" (Dolná zem), worunter das heutige Ungarn zu verstehen ist. Für dieses Land und seinen Namen habe, dazu fordert Král' ihn auf, auch der Slowake endlich, so wie andere Nationen, zu kämpfen. In der "Dumka von zwei Brüdern" (Duma dvoch bratov), einem zwei hingerichteten slowakischen Revolutionären gewidmeten Gedicht, spricht Král' angesichts der bewegenden Ereignisse von 1848 von dem sich fürchtenden versklavten Slowaken, rüttelt ihn zum Kampf wach, da sich ja auch schon die Tatra schäme, meint er, ruhig zu bleiben. Ein etwas anders klingender Bezug auf die mächtigen Berge wird hier genommen. Das Verhalten der Slowaken, ihre Eigenschaften, werden von jenen der Berge - im Sinne der erwähnten Idealisierung wie bei Chalupka oder Sládkovic - nicht abgeleitet, eher ihnen entgegengesetzt. Somit funktioniert Král' das Tatragebirge zu einem stillen Vorwurf gegen sein untätiges Volk um. Sollen die riesigen Berge die schwachen Slowaken, die sitzen und sich nicht bewegen, auslachen, fragt er im Gedicht "Jarná piesen" (Frühlingslied), das sich metaphorisch auf die revolutionären Ereignisse bezieht.
In die lange historische Nacht seines Volkes hineingeboren, wie Rúfus behauptet6, beklagt Král' mit seiner so anderen Weltsicht immer wieder seine menschliche Vereinsamung. Er sehnt sich nach einem Adlerflug über den ebenfalls einsamen Tatra-Bergen, um frei zu sein, und hält seinem Vaterland vor, daß es sich gar nicht um seinen Dichter kümmere. Wie Sládkovic drängt es also auch ihn in die erhabene Höhe über den Bergen, wo ihn zwar schwere Gewitter bedrohen, sprich, wo ihn die historischen Ereignisse mitreißen, wo der Geist aber frei und mit Innbrunst denken könne, schreibt er in den Gedichten "Orol vták" (Adler der Vogel), Orol (Der Adler) und Dva orly (Zwei Adler). Zu den beeindruckendsten Klagen Král's gehört seine Behauptung im Gedicht "Hlásnik národa" (Turmwächter der Nation), er sei als der einzig Lebendige unter lauter Tote in die Welt gekommen. In einer solchen Welt seien ihm auch Berge und Felsen nur noch Grabhügel des gestorbenen Lebens, auch des vergangenen Ruhms. Von ihnen wünscht er sich, daß sie wieder zum Sprechen anfangen und sein Land somit wieder zum Leben erwecken.
Wie tragisch für Král' der unlösbare Widerspruch war zwischen seinem Bedürfnis, als Sohn der Welt, wie er sich selbst bezeichnet, mit der Weltzeit mitzuleben auf der einen Seite und seiner tief verinnerlichten Verpflichtung, dem zurückgebliebenen Vaterland zu dienen auf der anderen, davon zeugt eines seiner bekanntesten Gedichte "Syn pustiny" (Sohn der Wildnis), wobei sich hinter dem Wort "pustina"die ungarische "Puszta" verbirgt, eine tief-ebene Landschaft als Kontrast zu der bergigen Slowakei. Hier, in dieser ganz anderen Welt, unter dem weiten Himmel sei er wirklich zu Hause, schreibt er, hier fühle er sich frei. Unter den riesigen Bergen dagegen, wohin ihn das Leben verschlug - damit ist offensichtlich seine Heimat gemeint -, wo hohe Berge den Himmel , sprich die Freiheit, zu einem engen Keil zusammendrücken, dort müsse man sich der Gemeinschaft unterordnen, Menschen, die von der anderen Welt keine Ahnung haben. Die Berge werden von ihm also als eine Art eine komplexere Weltsicht einschränkende "vier Wände" betrachtet, was deren sonstiger stolzer Verehrung durch die Slowaken durchaus kritisch entgegengesetzt ist. Ich glaube, im Ausdruck dieser seiner Einstellung, die, heißt es im Gedicht, seinerzeit kaum laut geäußert werden durfte, kommt der über seine enge Welt zumindest im Anspruch weit hinausragende Weltdichter zur Sprache.
Trotzdem gibt es auch bei Král' optimistisch gestimmte Lieder, etwa das einem bekannten Weihnachtslied angeglichene Gedicht "Radujte sa" (Freuet euch), wo mitten in hohen Bergen, also in der Slowakei, trotz aller Schicksalsschläge ein winziges Bäumchen, sprich, die slowakische Nation, an Kräften gewinne und emporwachse. Die Freude darüber sei ihm mit jener über die Geburt des Erlösers vergleichbar. Oder schließlich das späte Gedicht "Duma slovenská" (Slowakische Dumka), in dem er angesichts der erfolgversprechenden Aktivitäten im Interesse der Gründung von Matica slovenská, der wichtigsten kulturellen Institution der Slowakei, anfang der 60er des 19. Jahrhunderts die hohen Berge des Landes als Metaphern der seit großmährischen Zeiten in Zwietracht lebenden slowakischen Regionen in einheitlicher Anstrengung zusammenkommen läßt. Für ihn passierte dadurch etwas Unglaubliches, heißt es, ein Märchen wurde Wirklichkeit. Die Gründung sowie die nach 12 Jahren erfolgte Schließung von Matica slovenská durch die ungarische Regierung erlebte Král' noch. Die negativistische Grundstimmung seiner dichterische Aussage wurde von der letzteren sicherlich nur noch einmal bestätigt.
Ján Botto (1829-1881) heißt der vierte und jüngste der vier Dichter. Für Lieder, Märchen und Sagen des Volkes begeistert, ist auch ihm selbst das traurige Schicksal der Slowaken zu einem Märchen geworden, zum Märchen vom verzauberten Land. Es ist ein Land ohne Sonne, tödlich still, kalt, dunkel und voll grauen Nebels. Bottos Werk gleicht daher einem einzigen Aufruf, es zu entzaubern und zum neuen Leben zu erwecken. In diesem Zusammenhang spielt auch für ihn die slowakische Bergwelt eine bedeutende Rolle. Im bezeichnend betitelten Gedicht "Hrob" (Das Grab) fängt nur die durch die Wolken hindurchragende Spitze des Kriván-Berges etwas von dem Sonnenlicht ab. Es erhebt sich aber plötzlich ein Kämpfer, ein mächtiger Adler über die sich zusammenziehenden Gewitterwolken, die Veränderung und Aufklaren des Himmels verheißen. Für die Schuld der Ahnen, sprich für die Uneinigkeit der slawischen Herrscher im Großmährischen Reich, nach tausend Jahren lange genug gebüßt, ruft er im Gedicht "Pochod" (Der Marsch) die Slowaken zum Aufstehen nach der langen Nacht auf, damit auch der Kriván wieder voll in der Morgensonne aufleuchte. Als Gegensatz zu der Erhabenheit der Berge - neben dem Kriván sind es immer wieder die Tatra oder die Karpatenfelsen - und zu dem herbeigewünschten Erwachen der unter ihnen lebenden Menschen nennt Botto sein unfreies Volk Tiere, die auf der Erde kriechen. So im Gedicht "12. január 1870". Auch für ihn ist die bezeichnete geographische Lage in Bezug auf die jeweilige Höhe demnach immer wieder konnotativ, zugleich wertend.
Oft erscheinen bei ihm die beschworenen Entzauberer des Volkes, mächtige junge Helden, welche böse Drachen, Ritter, Schlangen oder Raubtiere bekämpfen, zusammen mit auffliegenden Adlern, den zum patriotischen Gesang anstimmenden Dichtern, die auch selbst erst zu ihrem wahren Dasein erwachen (so z.B. in den Gedichten "Obraz Slovenska"/Das Bild der Slowakei/, "K zivotu" /An das Leben/ und die beiden "Orol" /Der Adler/ betitelten Gedichte). Eine Art versteckte Kritik an der zeitgenössischen Literatur übt Botto in diesem Zusammenhang allerdings, wenn er mehrmals von "schlafenden" Adlern spricht.
Als enthusiastischer Panslawist besingt er die Karpatenmassive auch ausserhalb des slowakischen Landes. In dem dem heroischen Widerstand Montenegros - des slawischen Genies, sagt er - in dem gegen die Türken gewidmeten Gedicht "K hodom slávy" (Auf das Fest des Ruhms) - sind die Karpaten ein stolzer Bestandteil der slawischen Gemeinsamkeit und scheinen umsomehr zu einer hoffnungsvollen Zukunft aller Slawen zu berechtigen.
Nach Ján Marták macht die Fehleinschätzung mancher Ereignisse im damaligen größeren historischen Kontext Europas auch aus Botto einen ähnlich realtitätsfernen Träumer und Visionär7 - dem es um jeden Preis um das Freiwerden und das emanzipatorische Vorwärtskommen seines unterdrückten Volkes ging -, wie es die meisten slowakischen Dichter und Nationalerwecker, wie sie genannt werden, um die Revolutionsjahre herum gewesen sind - L'udovít túrtút, deren Führer, dabei nicht ausgenommen.
Von der problematischen Indienstnahme des panslawistischen Gedankens in diesem Zusammenhang, sowie von dem Widerspruch zwischen der tiefen Ungarnfeindlichkeit und der gleichzeitigen Begeisterung für die Revolution, die sich bei den Slowaken zum Schluß an der Seite des Kaisers gegen das revoltierende Ungarn wandten, könnte lange gesprochen werden. Janko Král's Weltschmerz ist z.T. dessen eindrücklicher dichterischer Ausdruck.
Lassen Sie mich zum Schluß noch zu dem anfangs angekündigten Themenkreis kurz etwas sagen, der in der slowakischen Bergwelt tief verwurzelt ist und dem vor allem Ján Botto seine Dichterstimme verlieh. Es ist das Thema des Räubers Juraj Jánoík, der von 1711 bis 1713 mit seiner Räuberbande in der nordwestlichen Slowakei für die Rechte des unterdrückten Volkes kämpfte. Im nachhinein wurde er mit seinen Taten zur Legende, zu einem beliebten Märchen- und Sagenmotiv. Die Legende breitete sich nach Mähren, Polen, Schlesien und in der Ukraine aus. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts bis heute wurde sie als die bedeutendste Kampf- und revolutionäre Tradition unserer Nationalkultur unzählige Male künstlerisch bearbeitet. Zum Symbol des revolutionären Widerstands wurde Jánoík vor allem nach dem im Gebiet der Slowakei größten Bauernaufstand in der Ostslowakei 1831, der bei uns die vorrevolutionäre Epoche einläutete.
Die bekanntesten und populärsten Bearbeitungen des Jánoík- bzw. des Räuber-Motivs stammen aus der Feder der Romantiker-Gruppe, von Chalupka, Král' und vor allem Ján Botto. (Král': Zobrák /Der Bettler/, Mládenec /Der Jüngling/, Zbojníkova balada /Ballade des Räubers/; Chalupka: Likavský väzen /Der Gefangene von Likava/, Král'ohol'ská /Das Lied von Král'ova hol'a/; Botto: Piesen Jánoíkova /Jánoíks Lied/, Smrt' Jánoíkova /Jánoíks Tod/). Ohne auf die einzelnen Fassungen näher einzugehen möchte ich nur zusammenfassend darauf hinweisen, daß die Jánoík-Welt immer eine Welt der hohen Berge ist, so wie auch er selbst in dieser Welt zu Hause war. Wiederholt ist von Tatra oder Kriván die Rede. Chalupka und Botto lassen ihre Berg-Kinder - als zwölf Falken bezeichnet - um ein Feuer auf Král'ova hol'a, einem weiteren bekannten Tatra-Berg, zusammensitzen. Das Räuberdasein wird von allen drei als Symbol der Freiheit, als furchterregensollender Widerstand gegen die Unterdrückung aufgefaßt, Jánoík und seine Bande als vom Volk geliebte Retter, als die ausgleichende Gerechtigkeit sozusagen. Dabei bietet die Bergwelt ihnen einerseits Schutz und die ersehnte Freiheit, andererseits ist sie ihnen, den geliebten Helden des Volkes, die entsprechende Landschaftskulisse: würdevoll, stark und gefährlich wie sie selbst.
Das Jánoík-Motiv vereint in sich zweierlei: einerseits die Entschlossenheit zum Kampf um jeden Preis sowie die Sehnsucht nach Freiheit und Gerechtigkeit, andererseits ist sein Tod Ausdruck der sich fortsetzenden ohnmächtigen Lage des Volkes. Die mächtigen Berge als Zeugen der ruhmvollen Vergangenheit sind dabei ein Ort der Zuflucht, des Stolzes, Schutz und Hoffnungsschimmer in Einem. Von dem Selbstbewußtwerdungsprozeß der Slowaken im 19. Jahrhundert sind sie auf jeden Fall nicht wegzudenken.
Anmerkungen
1 Vgl. Brockhaus: Conversations-Lexikon.Leipzig 1886.
2 Vgl. ebd. unter "Tátra".
3 Vgl. Rudo Brtán: Básnik Samo Chalupka. In: Samo Chalupka: Básnické dielo. Bratislava 1973, S. 373.
4 Vgl. ebd. S. 368.
5 Vgl. Milan Rúfus: Básnik Janko Král'. In: Janko Král': Poézia. Bratislava 1972, S.9f.
6 Vgl. ebd., S.9.
7 Vgl. Ján Marták: Ján Botto. In: Ján Botto: Poézia. Bratislava 1975, S.9-27.
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