Hartmut Krones
(Wien)
Musik spielt bekanntlich in Jura Soyfers Œuvre eine bedeutende Rolle. In nahezu alle seine Theaterstücke sind „Lieder“ bzw. „Songs“ oder „Chansons“ eingebaut – von ihm zwar nur als Textvorlagen,1 aber bei ihrer Aufführung immer mit Musik versehen, wobei Jimmy Berg sein bevorzugter Komponist war. So gibt es in Der Weltuntergang sieben meist als „Song“ oder „Chanson“ bezeichnete Lieder,2 in Der Lechner Edi schaut ins Paradies fünf,3 in Astoria fünf,4 und in Broadway-Melodie 1492 gar achtzehn.5 Darüber hinaus spielen Hinweise auf zusätzlich in die Szene hinein erklingende Musik immer wieder eine wichtige Rolle, was vor allem auch für das Romanfragment So starb eine Partei gilt. Schließlich gibt es von Soyfer eine stattliche Reihe von – insbesondere für die Arbeiter=Zeitung geschriebenen – Einzelgedichten, deren Titel das Wort „Lied“ aufweist und die sich auch im Duktus an Sprache und Aufbau von „Liedern“ orientieren.
In einem Brief, den Soyfer am 15. August 1932 aus Berlin an seine damalige Geliebte Marika Szecsi geschrieben hat, finden wir zudem einen „musikalischen Spaß“, der deutlich ein zumindest kleines musiktheoretisches Wissen unseres Dichters dokumentiert; ich zitiere:
„Gewiss ist aber, daß das deutsche Proletariat heute kein Faktor ist, mit dem man in Deutschland zu rechnen hat. Gewiss ist, daß die Fascisierung, ob nun in Dur oder in Cis langsam, unaufhaltsam über dieses Land kommt, wie ein graues Verhängniss.“6
Soyfer schreibt „Fascisierung“ und kommt so auf „Cis“, weil er das Wort „Faschismus“ etymologisch richtig vom lateinischen „fascis“ ableitet: fascis, fascis, masculinum, war das Bündel, die Last, und „fasces“ waren die Rutenbündel, die den höchsten Magistraten als Symbol der Strafgewalt über die Bürger vorangetragen wurden; wohlgemerkt: „der Strafgewalt“. Wenn Soyfer das Volksverblödungs-Instrument Wikipedia befragt hätte, wäre er nie auf dieses Sprachspiel gekommen, weil Wikipedia leitet Faschismus vom italienischen „fascio“, Bund, ab (in welchem Wort es kein „cis“ gibt); und daher wird dort sogar berichtet, daß der Begriff „Faschismus von Historikern als ,gewissermaßen inhaltsleer‘ beschrieben [wird], da er ,so gut wie nichts über das Wesen dessen aus[sagt], was faschistisch ist oder sein soll‘.“7
Und von „fascis“ kommt Soyfer auf „Cis“, wobei die Aussage „ob nun in Dur oder in Cis“ eigenartig ist, weil hier kein Gegensatz besteht: es müßte heißen „ob in Dur oder in Moll“ oder auch „ob in C-Dur oder in Cis-Dur“. Da ich mir aber auf der Website der Jura-Soyfer-Gesellschaft das Original des Briefes angesehen und die (diesbezügliche) Transkription für korrekt befunden habe, gibt es nur eine Erklärung: Soyfer setzt (wie das bei vielen „Fast-Laien“ der Fall ist) „Dur“ mit C-Dur gleich, weiß aber, daß es auch Cis-Dur gibt. Jedenfalls macht Soyfer hier einen musikalischen „Insider-Spaß“, der nichts mit vorhergehenden oder nachfolgenden Bemerkungen zu tun hat, die ausschließlich „die ,Faktoren‘ der deutschen Politik“ thematisieren: sie reichen „vom alten Teppen Hindenburg […] bis zum zerstreuten Degenerierten v. Papen und dem armen Pathologen Adolf“; laut Soyfer, der das Adelsprädikat „von“ vielleicht aus politisch-weltanschaulichen Gründen nur mit „v.“ abkürzt, sind diese drei Politiker alle „sehr ratlos und würden gerne mit mir tauschen. (Weil ich weiß, wo ich in drei Wochen sein werde und sie nicht.)“ – Soyfer wußte nämlich, daß er in drei Wochen sicher nicht mehr in Berlin sein würde, sondern in Wien, in seiner Marika, mit der die drei Genannten aus verschiedenen Gründen wohl kaum etwas anzufangen gewußt hätten. Und weiter beschreibt er die drei Politiker:
„Sie sind die ziemlich willenlosen Exponenten der Fraktionen der Bourgeoisie[,] Papen der Großbourgeoisie, Hitler der Kleinbourgeoisie, die ihre Rechte als Gläubiger fordern kommt; als solche handeln sie auf der Jammerbude, die sich heute Bühne des geschichtslichen [!] Geschehens nennt.“8
Die Rolle der Musik in Soyfers Prosa
Ich habe diesen Brief zitiert, weil die Aussagen so schön und treffend sind, vor allem aber, um zu zeigen, daß der „Cis-Witz“ „einfach so“ eingebaut wurde. Und um zu zeigen, welchen Stellenwert die Musik auch außerhalb seiner persönlichen Äußerungen sowie seiner Bühnenstücke einnimmt, seien noch einige Passagen aus seinem Fragment Das Ende einer Partei zitiert, die Soyfers Naheverhältnis zu unserer Kunst dokumentieren.
Der Genosse Robert Blum, „Kassier der 12. Sektion“, marschiert am 11. Februar 1934 bei der Demonstration gegen die Austrofaschisten mit, die „ohne Musik“ stattfindet, um deren „kämpferischen Sinn zu betonen“. Doch „von irgendwoher kam Gesang herein“, und plötzlich
„hatte das Lied ihn erreicht. Es war so häßlich und so machtvoll wie die Bezirksstandarte.9 Blum hatte es lange vor der Internationale gelernt und kannte alle Strophen auswendig. So stimmt er es an, »das Lied der hohen Braut, die ward dem Menschen angetraut, eh er selbst Mensch ward noch. Was sein ist, auf dem Erdenrund, entsprang aus diesem heil’gen Bund. Die Arbeit ho- ho- ho-o-o-ch, die Arbeit hoch!«.“
Der 18jährige Hans Dworak hingegen „sang das Lied der Arbeit nicht mit. Denn er marschierte in der Kompanie »Friedrich Engels«, und hier erfolgten Lied und Sprechchor nur auf Befehl des Kommandanten.“10 Soyfer wendet sich also sogar auf dem Gebiet der Musik gegen Kommandos und Befehle, auch wenn sie etwas „eigentlich“ Positives betreffen.
Besonders beeindrucken ist die Szene, in der Hans Dworak eine Demonstration von sozialdemokratischen „Schutzbündlern“, die in Gewalt umzuschlagen droht, aufzulösen versucht; im Abgehen fängt man nämlich an, das Kampflied Die Arbeiter von Wien zu singen. In die 1. Strophe hinein, die ganz zitiert wird („Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt […]“, ertönen die Rufe »In die Sektionslokale!«, »Auseinandergehen, Genossen!« sowie »Zurück, nicht provozieren lassen!«, doch dann „kamen die kurzen, boshaften Pfiffe der Überfallsautos näher“. Und jetzt sangen „die Gejagten […] rennend, keuchend, von Schlägen umhagelt“ weiter: „[Wir sind] der Zukunft getreue Kämpfer, | Wir sind die Arbeiter von Wien.“ Und der folgende Passus gehört zum Emotionalsten, das Jura Soyfer geschrieben hat; Liedverse und abgehackte Erzählung durchdringen einander in aufrüttelnder Form; ich versuche das zu lesen:
„,So flieg du flammende‘ | die Burschen | ,du rote Fahne‘ | mit der Wut und der Scham im Gesicht | ,voran dem Wege, den wir ziehn!‘ | die sangen. | Und die von der Kompanie Kaliwoda | ,Wir sind die Retter‘ | sangen alle. Und nur jene verstummten, | ,Wir sind die Rächer‘ | die die Übermacht niedertrampelte, um ihnen die Jacken vom Leib zu reißen, | ,Wir sind der Rote Schutzbund Wien!‘ | auf denen stand: | Friedrich Engels.“11
Erwähnt sei, daß die drei letzten Verse nicht original sind, sondern eine kämpferische Umdichtung des Textes darstellen.
Kurz erwähnt sei nur mehr die Szene im Gefängnis, als der politische Häftling Robert Blum gemeinsam mit vielen Verbrechern in einer riesigen Zelle sitzt und von einem Einbrecher zum Mitsingen eines ordinären Liedes aufgefordert wird: in ihm „onaniert die Tochter mit der Mutter hinter einer Tonne Butter mit der Kerze“, und in ihm „gratuliert der Kaiser der Franzosen ohne Hemd und ohne Hosen der Frau Gräfin – […] Maus, Maus, zuckersüße Maus, komm mit mir nach Haus –“.12
Pflichtlektüre für jedes Schulkind sollte schließlich Soyfers Rezension Eine öffentlich Generalprobe zu »Figaros Hochzeit« sein, in der eine Figaro-Aufführung vor einem „proletarischen“ Publikum in einer Volkshochschule beschrieben wird; sie ist zeitlos gültig – auch heute:
„Mozart ist schon besser interpretiert worden. Doch die Aufnahme, die er fand, hat ihn reichlich entlohnt. Es waren keine Kenner, die im Saal saßen. Niemandem fiel es ein, an den tiefen Lagen des Herrn Soundso und an der Atemtechnik des Fräulein N. N. herumzukritteln. Der Bühnenbildner brauchte nicht für das Schicksal seiner »Auffassung« zu fürchten, und der Dirigent hatte keine kritischen Blicke im Rücken haften. Die Einstellung der Zuschauer ist mit einem einzigen Wort völlig beschrieben: Dankbarkeit. Ja, in allererster Linie war man dankbar. Daneben war man wissensdurstig. […]
Primitiv? Gewiß! Es war ein primitives Publikum in einem primitiven Theater. Und wer das Theater wirklich liebt, der weiß: wenn es nicht im prunkenden Gewande erscheint, sondern ärmlich, halbnackt – dann erst merkt man vollends, wie tief sein Zauber in uns steckt.
Kein Reinhardt war zugegen, um Mozarts Musik zu inszenieren; kein Toscanini, um sie zu dirigieren. Mit dem Notdürftigsten versehen, auf sich selbst gestellt, hat sie dreihundert Menschen ergriffen und erhoben. Dies war das Erlebnis, das uns »Figaro« im Volksheim gab. Als die Zuschauer den Saal verließen, gingen sie in auffälligem Schweigen. Erst auf der Straße begannen wieder die Gespräche des kleinen Alltags.“13
„Musikalisches“ in Soyfers „Liedern“
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu Soyfers Musikbezug wollen wir die Musik-Affinität seiner „Lieder“ betrachten. Von besonderem Interesse ist hier die Wahl der jeweiligen Versmaße, die im Prinzip als eindeutige rhythmisch-musikalische Vorgaben für die Komponisten zu verstehen sind; in ihrem gar nicht seltenen Wechsel innerhalb eines Gedichtes stellen sie zudem durch ihre Versmaß-Charaktere deutliche Hinweise auf den unterschiedlichen Affekt-Rahmen der Textteile dar. Plötzliche, einzelne Verse betreffende Anaklasis-Bildungen,14 Betonungs-Synkopen oder auch großformale Symmetrien sind dabei wohl schon von Soyfer selbst als „musikalische Entitäten“, als rhythmische und somit metrisch-musikalische Kunstgriffe (und gleichsam auch „Anleitungen“) verstanden worden.
Abbildung 1: Planeten-Walzer
Blicken wir zunächst in das Mittelstück Der Weltuntergang, und hier kurz in den Planeten-Walzer (Abbildung 1): „Es schwebt im Kosmos der Planet | Von Weltraumkälte scharf umweht.“ Soyfers „musikalische Charakterisierung“ lautet: „Sehr langsam und würdig. English-Waltz“; und weiter führt er aus, daß es sich um einen „Tanz der Planeten“ handelt. Da ein English Waltz im langsamen Dreier-Takt steht, kann seine Musik bei einem zweisilbigen Versmaß nur ein quantitierender Trochäus (lang–kurz) oder ein quantitierender Jambus mit Auftakt sein (kurz | lang–kurz | lang–kurz usw.). Soyfer entschied sich für die zweite Möglichkeit: „Es schwebt im Kosmos der Planet“. Und dementsprechend hat Jimmy Berg das Lied in einen auftaktig anhebenden 3/4-Takt gestellt (die kurzen Silben jeweils als Viertelnote, die langen als Halbe).15
Soyfers letzte Strophe wird nun allerdings von einer Anaklasis eröffnet: „Dies zu befolgen nennt er Pflicht“ (und nicht „Dies zu befolgen“); und als Erklärung für die Umrhythmisierung folgt bald die Feststellung der Sonne, daß die Erde „aus dem Sphärentakt gefallen“ sei. Diese unregelmäßige Betonung, die zudem das wichtige „dies“ hervorhebt, wird von Jimmy Berg nicht „mitgemacht“, er bleibt beim Walzer: „Dies zu befolgen“. Dafür wechselt er bei „Durch u quadrat mal r hoch zwei“, welche Textpassage von Soyfer wohl auch jambisch gedacht worden war, partiell zu einem Tribrachys: Durch u quadrat mal r hoch zwei“ (ausschließlich Viertelnoten), ehe er wieder – just bei der Anaklasis – jambisch wird: „Dies zu befolgen“. Und dann wechselt er – gleichsam gegen Soyfer – noch einmal das Metrum: „und andre Sorgen hat er nicht“; die Silbe „an-“ erhält eine punktierte Viertelnote, ehe drei Achtelnoten den Takt füllen. Wahrscheinlich „absolviert“ Jimmy Berg den Text „andre Sorgen“ so schnell, weil der Planet eben keine (!) anderen Sorgen hat.
Wilhelm Zobl hinwiederum komponierte in seiner 1984 im Theater an der Wien uraufgeführten Oper Der Weltuntergang (Libretto: Peter Daniel Wolfkind nach Jura Soyfer)16 den ganzen Walzer volltaktig, also daktylisch-trochäisch, wodurch der Dreier-Takt des Walzers einerseits zu Daktylen, andererseits zu quantitierenden Trochäen wird: „Es schwebt im | Kos-mos | der – Pla- | net, || Von Weltraumkälte scharf umweht“. Durch die Weiterführung dieser Rhythmisierung würde dann auch das von Soyfer mittels einer Anaklasis hervorgehobene Wort „dies“ automatisch betont, doch eliminiert Zobl diese letzte Strophe zugunsten anderer Textierungen der Melodie.
Zobl baut aber in den immer rascher vorwärtseilenden Walzer jene von der Sonne im (dem Walzer folgenden) Gespräch der Planeten erwähnte „ekelhafte Dissonanz“ ein, die sich in die Sphärenharmonie geschlichen hat: Immer klangschärfer wird das Geschehen, bis gleichsam „brutale“ Akkorde die anfangs noch poetische Atmosphäre endgültig zerstören. Jimmy Bergs leichte Dissonanzen hingegen „knüpfen“, wie Manfred Permoser in dem April 2013 von Herbert Arlt und mir im „Mozarthaus Vienna“ organisierten Soyfer-Symposion festgestellt hat, nur „an gängige Muster der [damaligen] Unterhaltungsmusik an“.17 – Ob Soyfer bei der „Sphärenharmonie“ eher an Pythagoras von Samos, an das Speculum musicae von Jacobus Leodiensis, an Dantes Göttliche Komödie oder an Johannes Keplers Harmonices mundi dachte, wage ich nicht zu entscheiden; vielleicht kann die Soyfer-Forschung diese Frage eines Tages beantworten.
Abbildung 2: Vagabundenlied II
Im Vagabundenlied II, dem Schlußlied aus Astoria, dessen Text18 die Abbildung 2 wiedergibt, stimmt Soyfer die Versmaße seiner Textaussagen noch genauer auf die jeweiligen Inhalte ab. Die erste Strophe spricht den Vagabunden zunächst wohl mit einem jambischen Vers an, der gezielt das „du“ betont: „Willst du, zerlumpter Geselle“; doch danach folgt ein sicher daktylisch zu sehender Vers: „Ewig auf Wanderschaft sein“ – er eröffnet die Hauptaussage des Liedes, die Wanderschaft des Heimatlosen, eigens mit einer Betonung. Die nächsten beiden Verse sind dann wohl erneut jambisch-anapästisch vom Typ des halben Elégiambus und des Archilóchius minor: „Ist zwischen Himmel und Hölle“ sowie „Nicht ein Stück Erde sein“. (Die erwähnten Spezialbezeichnungen aus der griechischen Metrik lassen ich in der Folge beiseite. Sie sind wohl kaum für Soyfer relevant, vielleicht hat er sie auch gar nicht gekannt.) Während man den 1. und den 3. Vers allerdings durchaus auch als daktylisch gebaut sehen könnte, ist der 4. Vers wohl unbedingt jambisch gedacht, weil das inhaltlich zu betonende Wort ganz sicher das Zahlwort „ein“ ist (und nicht das „nicht“): „Nicht ein Stück Erde dein?“
Abbildung 3: Jimmy Berg, Vagabundenlied II (Beginn)
Jimmy Berg allerdings vertonte den Beginn des Gedichtes volltaktig (Abbildung 3)19, wobei sein steter Wechsel zwischen schnellen Viertel- und Achtelnoten einerseits, breiten halben Noten andererseits die von Soyfer angedachte „Deklamationsrhythmik“ sicher nicht adäquat wiedergibt; dies vielleicht merkend, hat er die „Wanderschaft“ zugunsten von „Wand’rer“ (sowie auch alle Beistriche) eliminiert und (positionsmäßig) zu folgendem Schema gefunden: „Willst du, zerlumpter Gesel––le––, | Ewig ein Wand’rer sein ?“ – Um dann das (vielleicht auch von ihm als grundsätzlich auftaktig und somit primär als jambisch gesehene) Versmaß zu erfüllen, schiebt Jimmy Berg in den 3. Vers das Wort „denn“ ein: „Ist denn zwischen Himmel und Höl–le | Nicht ein Stück Erde dein ?“ Dabei gestaltet er das als Senkung postierte, aber inhaltlich besonders wichtige „ein“ als Synkope, um mit ihr die dem Wort eigentlich zugedachte Hebung zu ersetzen; das stellt für diesen (4.) Vers zwar einen geschickten und auch textadäquaten Kunstgriff dar, doch daß Berg diese Synkope aus Gründen der Parallelität auch im 2. Vers plaziert, entspricht ganz sicher weder der „Deklamationsrhythmik“ noch der inhaltlichen Logik – heißt es (im Bezug auf die Akzentuierung) dort jetzt doch: „Ewig ein Wand’rer sein ?“ – Eine jambische Behandlung des 4. Verses hätte diese „Gewaltsamkeit“ nicht notwendig gemacht.
Jura Soyfer gestaltet die Verse 5 und 6 der 1. Strophe, vielleicht angesichts des weit privateren Inhalts, wieder jambisch-anapästisch: „Kein Dach, darunter zu wohnen, | Kein Baum, der für dich blüht?“ Und die wieder allgemeineren Fragen der Verse 7 und 8 („Hörst du, der Wind in den Pappelkronen | Singt dir ein neues Lied:“) sind wohl wieder daktylisch-trochäisch; doch auch sie könnten jambisch-anapästisch gedacht sein: „Hörst du, der Wind in den Pappelkronen | Singt dir ein neues Lied:“. – Hat Soyfer eine eindeutige Deklamations-Rhythmik im Sinn gehabt oder hat er bewußt mehrere Möglichkeiten offengelassen ?
Wir kommen zur 2. Strophe: Sie hat ebenfalls acht Verse und nicht, wie die Edition 2012 glauben macht, zehn. Und erneut ist die Verteilung von Hebungs-Versen und Senkungs-Versen zum Teil doppeldeutig: Es könnten durchaus alle acht Verse rein jambisch gedacht sein: „Such dir das Land, das dir gehört | Auf diesem Erdenrund […].“ Doch auch hier besteht die Möglichkeit, daß die ersten beiden Verse daktylisch-trochäisch gedacht sind: „Such dir das Land, das dir gehört | Auf diesem Erdenrund []…].“ Ab dem 3. Vers allerdings ist die Strophe aber sich jambisch geführt. Zwar könnte der 3. Vers, „Such nicht Astoria“, auch daktylisch deklamiert werden („Such nicht Astoria“), doch würde dann das Schlüssel-Wort „nicht“ gleichsam in der Nebensilben-Reihe untergehen. Vielleicht ist dieser Vers sogar als bewußt doppeldeutiger Übergang zu den Jamben der nächsten Verse gedacht: „Und ist das Herz vom Hoffen müd | Und sind die Füße wund – | Marschiere weiter, sing dein Lied, | Mein Bruder Vagabund.“ Doch auch hier wäre für die ersten beiden Verse eine daktylisch-trochäische Sicht möglich, ehe der Jambus eindeutig ist: „Und ist das Herz vom Hoffen müd | Und sind die Füße wund – | Marschiere weiter, sing dein Lied, | Mein Bruder Vagabund.“
Die 3. Strophe beginnt dann ganz sicher mit einem daktylischen Vers: „Bettelnd von Schwelle zu Schwelle“; danach aber folgt wohl ein Jambus: „Hast du den Hut geschwenkt“, wenngleich rein prosodisch auch eine daktylisch-trochäische Lesart möglich wäre: „Hast du den Hut geschwenkt.“ Und diese Folge könnte – retrograd im Sinne einer Brückenstruktur – bewußt einen Bogen spannen: erst jambisch-anapästisch, dann mit Hebung beginnend: „Die Heimat, mein Wandergeselle | Wird einem nie geschenkt.“ Und offensichtlich sah Soyfer die nächsten vier Verse wieder als besonders emotionale Äußerungen: „Drum nimm dir Pflug und Spaten | Und halte dich bereit | Und hol herbei deine Kameraden, | Und wo ihr grade seid.“ Wenn Schönberg der Dichter wäre, würde ich mit voller Überzeugung sagen, daß der überzählige Versfuß bei „und hol herbei deine Kameraden“ eingebaut wurde, weil es eben viele Kameraden sind. Ob auch Soyfer solche für die damalige Wiener Moderne durchaus typischen Zahlenchiffren anwandte, wage ich nicht zu behaupten, aber auffallend ist diese Faktur allemal.
Die 4. Strophe ist dann weitestgehend konform mit der 2. Strophe gebaut: Der 1. Vers („Dort ist das Land, das dir gehört“) ist sicher daktylisch-trochäisch gedacht, dann folgen sieben Jamben – die Worte „mein Bruder Vagabund“ bestimmen wohl auch hier das „weichere“ Versmaß. – Alle vier Strophen in den Blick nehmend, könnte Soyfers Intention die folgende sein: Die Strophen beginnen jeweils mit einem oder zwei Hebungs-Versen (die 1. Strophe mit zwei, die übrigen mit einem), denen dann – trotz fallweiser Doppeldeutigkeit – ausschließlich jambisch-anapästische Strukturen folgen. Dies insbesondere auch, weil hier jeweils weit emotionalere Inhalte in die Worte gelegt werden.
Abbildung 4: Chanson von den Verträgen
Blicken wir nun auf das Chanson von den Verträgen aus der Broadway-Melodie 1492, einem Gedicht (Abbildung 4), das in verblüffender Weise eine musikalische Großform besitzt: A–B–C–A–B–C’. „A“ besteht aus neun fünffüßigen Trochäen: „Werte Freunde, na, ich will nicht lügen | Und zumindestens heut abend nicht […]“ – Und nun folgt der „B“-Teil: vier Verse, die (in wechselnder Reihenfolge) jeweils aus einem Trochäus, einem Daktylus und einer Hebung bestehen: „Trotzdem bleiben wir kalt. | Denn wie groß diese Erde | Auch durch Kolumbus werde | Ist sie in unsrer Gewalt.“ – Formteil „C“, beginnend mit „Das Spiel, das er so kühn begann“, besteht dann aus sieben abwechselnd vier- und dreifüßigen Jamben sowie (Nr. 8) einem anapästischen Vers: Nr. 7 und 8 sind somit folgendermaßen zu sprechen: „Nur eines aber weiß er nicht: | Der Vertrag, der Vertrag ist zerrissen.“
Es folgen ein weiteres „A“ aus neun fünffüßigen Trochäen sowie ein (erneut vierversiges) „B“ mit unterschiedlich angeordneten Hebungs-Metren: „Trotzdem, auf mein Wort, | Stehn wir erst an der Schwelle, | Christophs Holzkaravelle | Führt schon all dies mit an Bord.“ Der letzte Vers ist rein dyktylisch, wohl, um die Worte „schon all dies“ mit einer Art von vorwärtsdrängendem Charakter auszustatten. – Und den Abschluß machen, entgegen der Edition 2012, ab „Im Jahre neunzehnhundertund –“, acht (!) zunächst regelmäßig wechselnde vier- und dreifüßige Jamben, ehe ein uns schon bekannter anpästischer Vers das Chanson – wieder gleichsam steigernd – abrundet: „Der Vertrag, der Vertrag ist zerrissen.“ Vertonungen dieses Gedichts wären interessant, leider kenne ich keine. Ich fürchte aber, daß diese ungemein „sophisticated“ ausgefeilte Struktur kein Äquivalent in der Musik fände.
Abbildung 5: Tapferkeit und Biederkeit
Eine ähnlich systematisch strukturierte Form besitzt das sonnettartige Lied Tapferkeit und Biederkeit (Abbildung 5), ebenfalls aus der Broadway-Melodie 1492. Die ersten beiden Strophen versammeln jeweils einen trochäischen und zwei jambische Verse, und der abschließende Vierzeiler wechselt zwischen Trochäus und Jambus. Die 2. Strophe hat also (wie die 1.) die folgende Struktur: „Sparsamkeit und Lauterkeit | Und Einigkeit und Keuschigkeit | Gibt’s nur bei uns zu Hause.“ Und dann folgen zwei wiederholte, ebenfalls zwischen Trochäus und Jambus wechselnde Verse: „Das ist gar nicht wenig | Es lebe der Kö(öö)nig!“ Das folgende Wort „Dunkel“ ist nur eine Regieanweisung. Der König heißt nicht „Dunkel“, ist aber auch selber (weil kursiv gedruckt) keine Anmerkung für die Regie.
Abbildung 6: Telegraphen-Chanson
Besonders interessant strukturiert hat Soyfer auch das Telegraphen-Chanson aus Der Weltuntergang, das gleichsam im trochäischen Telegramm-Stil an uns vorübereilt: „Von den neunundneunzig Rändern | Dieser kugelrunden Erde | Flitzen flink aus tausend Sendern | Die Berichte. – | Durch die zarten, blitzend harten | Kupfernerven dieser Erde | Surrt die Weltgeschichte. | Sing – sang – kurz – lang“. (Da sind in der Edition 2012 zwei Verse in eine Zeile gedrängt.) Und der 9. Vers., „Sendung – Empfang“, beginnt gleichsam mit einem Daktylus: Zwischen Sendung und Empfang vergeht ja eine gewisse Zeit, da muß schon eine Silbe mehr in den Text. Vielleicht sollen es hier aber auch zwei voneinander unabhängige Einzel-Versfüße sein: Trochäus – Jambus. (Übrigens hat Jimmy Berg dieses Chanson in einen schnellen 4/4-Takt gestellt und als seinen Charakter sogar „wie das Tippen vieler Schreibmaschinen“ dazugeschrieben.20)
Das Schema wiederholt sich in der 2. Strophe in identischer Weise: „Opfer fallen – Kurse steigen – | Friedenspakte ruhn in Frieden.“ usw. bis „Gas – Tank – kurz – lang | Sendung – Empfang. | Stop.“ – Und in der 3. Strophe (sie beginnt mit „Zeichen, Silbe, Worte, Sätze“ […]) vermittelt uns Jura Soyfer, daß auch der Weltuntergang länger dauert und somit eines Daktylus’ bedarf: „Und nur eines, nur ein kleines | Hat im Netz sich festgefangen | Und bleibt zappelnd liegen. | Kurz – lang – kurz – lang: | »Weltuntergang«. | Stop.“ ––
Interessant ist das Ende der vierten Strophe: „Und das Todesurteil wird | Ende Mai exekutiert! | Stop! Stop! Stop!“ Haben Sie den Daktylus vermißt? Ja, hier ist keiner, und ich bezweifle sogar, daß der Vers durchgehend trochäisch gedacht ist. Vielmehr glaube ich, daß Soyfer angesichts der „Exekution“ eine Synkope eingebaut hat bzw. das „exekutiert“ – wie einen Gewehrschuß – noch einmal mit einer Hebung versehen hat: „Ende Mai exekutiert!“ Es sind gleichsam zwei kleine Hebungs-Verse, einmal mit trochäischem, einmal mit daktylischem Beginn: „Ende Mai | exekutiert!“ Genial – ein Komponist müßte das genauso nachempfinden. – Jimmy Berg hat sich davor „gedrückt“. Denn nach dem Vers „Ist zum Tod verurteilt worden“, dessen Trochäen er mit Halben Noten extrem verbreitert hat, läßt er die Aussage „Ende Mai | exekutiert!“ aus und setzt mit (pausendurchfurchtem) „Kurz – Lang | Kurz – Lang | Weltun–ter | gang – Stop!“ fort.
Abbildung 7: Kometen-Song
Wir wollen noch in den Kometen-Song aus Der Weltuntergang blicken. „In diesem leidenschaftlich pathetischen Schlussappell [entwirft Soyfer] seine Zukunftsvision einer besseren Welt“21, befindet Manfred Permoser; und diese bessere Welt wird mit völlig störungslosen jambisch-anapästischen Versen versinnbildlicht: „Denn nahe, viel näher als ihr es begreift, | Hab’ ich die Erde gesehn. | Ich sah sie von goldenen Saaten umreift, | Vom Schatten des Bombenflugzeugs gestreift | Und erfüllt von Maschinengedröhn.“ Und, sehr interessant, Jimmy Berg vertonte das „hab’ ich“ volltaktig als Anaklasis, also „Denn nahe, viel näher als ihr es begreift | Hab’ ich die Erde gesehn.“22 Rufen wir uns in Erinnerung, was er über seine gemeinsame Arbeit mit Jura Soyfer am Kometen-Song berichtet:
„Es war nicht einfach so, daß mir Jura, der wußte, daß ich selbst Erfahrungen als Textdichter hatte, einfach Verse hinlegte und ich sie herunterkomponierte. Immer wieder bestimmten wir gemeinsam die richtigen Stellen für Chansons und deren stilistische Färbung und Rhythmus, und oft krempelte ich seine Versmaße (nie den Inhalt) mit seiner Zustimmung um. Der klassische Fall war das Schlußlied für den ,Weltuntergang‘ [den Kometen-Song].“ Und jetzt schildert Berg, wie er zwei Verse („Ich liebe diese Erde voll Hunger und voll Brot. | Ich liebe diese Erde voll Leben und voll Tod“) umstellte und Soyfer damit überzeugte; denn er „kam in ein paar Minuten auf die bekannte Lösung: ,Voll Hunger und voll Brot ist diese Erde. | Voll Leben und voll Tod ist diese Erde. etc.‘ Jura war nicht nur einverstanden, er war begeistert und machte mir das Kompliment, daß kein anderer Komponist mit seinen Texten so umzugehen verstand wie ich.“23 – Wir wollen also annehmen, daß Berg auch die Anaklasis-Betonung „Hab’ ich die Erde gesehn“ richtig sieht bzw. sie sogar mit dem Dichter abgesprochen hat.
Das Prinzip, regelmäßige Versmaße bei inhaltlicher „Problematisierung“ (positiver wie negativer) oder bei einer gewollten „Nachzeichnung“ von speziell negativen Aussagen zugunsten von „Unregelmäßigkeiten“ abzuändern, ist ein sehr häufiger Kunstgriff Jura Soyfers, ein Kunstgriff, der zudem Jahrhunderte alt ist. So setzte er im jambisch-anapästischen Journalisten-Chanson aus Der Weltuntergang zweimal das Stilmittel der Anaklasis ein; zuerst, um „Stahlaktien klettern munter“ zu betonen (und nicht Stahlaktien“), und dann für die Aussage „Durchs letzte Diplomatenfest | Lief ein Gerücht, das nicht locker läßt“ (statt „Lief ein Gerücht“).
Auch im „Weltuntergangs-Schlager“ Gehn ma halt a bisserl unter …, „einer gekonnten Parodie auf populäre Leopoldi-Schlager“, in der laut Permoser die „Zitat-Montage zum Instrument beißender Gesellschaftskritik [wird]“24, erscheint die jambisch-anapästische Regelmäßigkeit einige Male bei besonders wichtigen Worten zugunsten von Anaklasis-Betonungen „gestört“: denn zunächst heißt es hier „Es holt der Franz das Fräuln Marie | Zu einer Überlandpartie.“ Dann aber „Ich weiß mir dazu ein Sprüchel! | Ob ich auch s’kleine Café | In Hernals nimmer seh – | Sag’ ich trotzdem ganz lustig Ade!“ (Theoretisch es allerdings auch trochäisch-daktylisch gemeint sein: „In Hernals nimmer seh.“) – Sicher trochäisch sind aber der Refrain-Beginn „Gehn ma halt a bisserl unter“ sowie der Schluß der 2. Strophe „Hoch die Weltuntergangskonjunktur!“
Im jambisch-anapästischen Chanson der Titze-Tante (Die Erde ist seit eh und je | Ein schöner runder Jausentisch“), ebenfalls aus Der Weltuntergang, haftet dem Vers „Voller Sorgfalt und Lieb“ durchaus ein Anaklasis-Charakter an („Voller Sorgfalt und Lieb“), im Song des Guck („Ihr habt in meinem Schädel tausend Formeln verstaut“) aus demselben „Mittelstück“ ist der Refrain „Falsch ist falsch und wahr ist wahr“ hingegen nur trochäisch auffaßbar.
Sehr regelmäßig sind hingegen gleichsam „neutrale“ Aussagen gebaut: in der Broadway-Melodie 1492 etwa Anacoanas Aus dem Zeichen einer Abendwolke: Dessen 1. und 3. Strophe, die die Erzählungen des Medizinmannes zum Inhalt haben, sind rein trochäisch gebaut, während die sehr persönlichen Empfindungen des Mädchens in der 2. und 4. Strophe wieder jambisch-anapästisch gestaltet wurden: „Und als er so aus den Wolken las“ bzw. „Und aus der donnernden Wolke las“. – In Der Lechner Edi schaut ins Paradies besteht das Wanderlied der Zeit („Der Weg ist weit | und fern die Rast.“) aus fünf jambischen, in identischer Regelmäßigkeit gebauten Zehnzeilern, das Trinklied („Golden blinkt das Blut der Reben“) weist vier zehnzeilige, ebenfalls völlig gleich gebaute trochäische Strophen auf, und die Moritat im Paradies („Greif, o Herr, nicht in den Lehm“) versammelt sieben (jeweils vierzeilige) vierfüßige trochäische Strophen. Die 32 (viermal acht) Verse des „in der Tradition des Wiener Volkstheaters“25 wohl von allen Akteuren des letzten Bildes gesungenen anapästisch-jambischen Schlußgesanges („Zwei Kontinente und ein wildes Meer“) hingegen weisen einmal eine Anaklasis auf: „Denn in der Einbahnstraße der Zeit“ – das Wort „denn“ benötigt und begründet diese Betonung.26
Viele Wechsel zwischen den beiden Grundversarten weist hingegen der Jazzschlager aus der Broadway-Melodie 1492 auf, doch seine Analyse würde den zur Verfügung stehenden Platz sprengen; sie sei, da sie trotz aller Unregelmäßigkeiten sowohl einfach zu erstellen als auch jeweils leicht zu begründen ist, den von meinen Betrachtungen infizierten Soyfer-Fans überlassen.
Abbildung 8: Lied von der Grenze
Eine interessante Struktur besitzt übrigens auch das einzeln überlieferte, für eine Kleinkunstbühne geschriebene Lied von der Grenze, das wir abschließend betrachten wollen.27 Die Großform ist: A (vier Trochäen + vier jambisch-anapästische Verse) – B (vier jambisch-anapästische Verse, einer mit Anaklasis) – A (4 Trochäen, 2 davon mit Zäsur + vier jambisch-anapästische Verse) – C (2 Jamben) – B (die gleichen Worte wie im ersten B). – In den A-Teilen ist von Interesse, daß der jeweils 5. Vers, der die „jambisch-anapästische“ Hälfte eröffnet, (gleichsam als Übergang) noch trochäisch-daktylisch empfunden werden könnte: „Und die zwei Leben, die du gehabt“, aber eventuell auch „Und die zwei Leben, die du gehabt“, sowie „Und wie die Würfel fallen“, aber eventuell auch „Und wie die Würfel fallen“. Und am Ende des zweiten A-Teils hebt Soyfer, wie so oft, ein besonders wichtiges, speziell betontes Wort durch eine Anaklasis hervor: „Er – auf jeden Fall.“
Auch im jambisch-anapästischen Formteil B („Denn diesseits der Grenze und jenseits der Grenze“) finden wir die Betonung eines wichtigen Wortes mit Hilfe einer (hier sogar trochäisch-daktylisch wirkenden) Anaklasis: „Steht derselbe Soldat“. Und diese Unregelmäßigkeit wirkt beim zweiten Mal noch auffälliger, „hinweisender“, da vor diesem B-Teil zwei fünffüßige, rein jambische Verse (als Teil C) eingebaut sind, wie sie in dieser Breite in dem ganzen Gedicht kein zweites Mal vorkommen: „Du bist ein unbrauchbarer Stein im Spiel. | Du bist ein schwerer Grenzfall, Theophil.“ So erhält der letzte Vers, der das Lied von der Grenze nach den zwei jambisch-anapästischen Versen und der trochäisch-daktylisch wirkenden Anaklasis schließt, durch seine rein jambische Struktur eine besondere, demonstrativ hervorgehobene Aussagekraft: „Und nur ein Leben hat …“
Wir sind ans Ende unserer Betrachtungen der „inneren Musikalität“ bzw. der metrisch-musikalischen Struktursetzungen von „Liedern“ Jura Soyfers gelangt, die zu Vertonungen vorgesehen waren (und diese Vertonung auch erfuhren). Und sind wohl alle überrascht, in welch hohem Maß unser oft als „Keller-Literat“ abqualifizierter Dichter artifiziellste metrische und formale Kunstgriffe als Mittel für inhaltliche Spezifizierungen, Beleuchtungen oder auch Emotionalisierungen einsetzte. Auch bei ihm ist es wohl jene Wiener Symbolfreudigkeit, jene Wiener Lust an der Chiffre und an der versteckten Botschaft, die ihn zu dieser Höhe eines semantischen Reichtums führte, die zur gleichen Zeit auch die Musik der Komponisten der „Wiener Schule“ durchzog und allgemein als konstitutiv für die „Wiener Moderne“ der Zwischenkriegszeit gilt. Es ist an der Zeit, Jura Soyfer als literarisches Pendant zu diesen Hochleistungen zu sehen.
1Die im folgenden (Anm. 2 bis 5) bei den „Liedern“ angegebenen Seitenzahlen geben deren Plazierung in folgender Ausgabe an: Herbert Arlt (Hrsg.), Jura Soyfer, Edition 2012. Band I: Dramatik, Wien 2012.
2Planeten-Walzer („Es schwebt im Kosmos der Planet“, S. 13), Telegraphen-Chanson („Von den neunundneunzig Rändern“, S. 19f.), [Journalisten-Chanson] („Hallo, Paris? Hallo, wer spricht?“, S. 20f.), Gehn ma halt a bisserl unter … („Es holt der Franz das Fräuln Marie“, S. 37f.), Chanson der Titze-Tante („Die Erde ist seit eh und je“, S. 41ff.), Song des Guck („Ihr habt in meinen Schädel tausend Formeln verstaut“, S. 49f.), Kometen-Song („Denn nahe, viel näher als ihr es begreift“, S. 51f.).
3Wanderlied der Zeit („Der Weg ist weit | Und fern die Rast“, S. 67f.), Matrosenlied („Wenn’s dir daheim nicht mehr gefällt“, S. 77f.), Trinklied („Golden blinkt das Blut der Reben“, S. 84f.), Moritat im Paradies („Greif, o Herr, nicht in den Lehm“, S. 87ff.), Schlußlied („Ja, stop auf der Fahrt zur Vergangenheit“, S. 91f.).
4[Winter bzw. Vagabundenlied I] („Der Sommer ist verglommen“, S. 95), Wenn der Himmel grau wird („In weiter Ferne sind verblaßt | Die Sterne, unsere Brüder“, S. 120), Chanson von der Ehre („Willst du Platz am warmen Herde?“, S. 121f.), Lied von der Käuflichkeit des Menschen („Ins Himmelblau die Rohstoffpreise steigen“, S. 127f.), [Vagabundenlied II] („Willst du, zerlumpter Geselle“, S. 146f.)
5Die Bretter, die von Weltbedeutung sind (S. 184f.), Chanson der Herzogin von Moya („Moya heiß ich, wie Sie wissen“, S. 192f.), Chanson von den Verträgen („Werte Freunde, na, ich will nicht lügen“, S. 200ff.), Lied von den Gefahren des Meeres („Dingo, du armer Matrose“, S. 209ff.), Auf, auf ins ferne Indien (S. 212f.), Ballade der Drei („Achtung, denn jetzt kommen wir“, S. 219f.), Gebet an den heiligen Christoph („Auf weitem Meer und fernem Strand“, S. 220f.), Lasset alle Herzen schwingen (S. 227f.), Schiffslied („Blau sind die Wellen im Ozean“, S. 228f.), Vierzehn Stunden alle Tage (S. 230f.), Wenn die Sonne untergeht (S. 232), Hymne („Tapferkeit und Biederkeit“, S. 236), Lied der Anacoana („Aus dem Zeichen einer Abendwolke“, S. 245f.), Lied des Häuptlings I („Länder werden Karten“, S. 251f.), Chanson des Pepito („Die ham glaubt halt, wir wärn Götter“, S. 269f.), Lied des Häuptlings II („Kolumbus meinte lange Zeit“, S. 270f.), Jazzschlager („Wir steppen vorwärts und stoppen nie“, S. 278f.), Schlußgesang („Zwei Kontinente und ein wildes Meer“, S. 281f.).
6Herbert Arlt (Hrsg.), Jura Soyfer, Edition 2012. Band 4: Briefe, Wien 2012, S. 57. Die kleinen Änderungen gegenüber der Edition sind gemäß dem handschriftlichen Original vorgenommen.
7Wikipedia, Artikel Faschismus (abgerufen am 27. November 2020), Das dortige Zitat stammt aus Fritz Schotthöfer, Il fascio. Sinn und Wirklichkeit des italienischen Faschismus, Frankfurt/M. 1924; zitiert nach Wolfgang Wippermann, Faschismus. Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute, Darmstadt 2009, S. 7.
8Jura Soyfer, Briefe (Anm. 5), S. 57.
9Es handelt sich um das Lied der Arbeit, die bis heute „inoffizielle Hymne der österreichischen [und zum Teil auch der deutschen] Sozialdemokratie“.
10Jura Soyfer, So starb eine Partei (Romanfragment), in: Herbert Arlt (Hrsg.), Jura Soyfer, Edition 2012. Band 2: Prosa, Wien 2012, S. 15–182, hier S. 57, 56 und 59.
11Ebenda, S. 135–137. Gegenüber dem Original wurden hier die Lied-Verse in (einfache) Anführungszeichen gestellt. Zu Soyfers Kunstgriff, Liedverse zwischen die Brutalität der Auseinandersetzung zu stellen, siehe Lutz Holzinger, Jura Soyfer – ein relistischer Phantast, in: Jura Soyfer, Die Ordnung schuf der liebe Gott. Eine Auswahl, hrsg. von Werner Martin, Leipzig 1979, S. 401–410, hier S. 409f.
12Ebenda, S. 153.
13Eine öffentliche Generalprobe zu »Figaros Hochzeit«, in: Edition 2012. Band 2: Prosa (Anm. 10), S. 223–226, hier S. 224f.
14Also Vertauschung von Längen und Kürzen bzw. von betonten und nichtbetonten Silben.
15Abbildung des Beginns seiner Vertonung (Faksimile) in: Herbert Arlt (Hrsg.), Jura Soyfer, Edition 2012. Band 3: Dichtungen (incl. Lieder mit Noten), Wien 2012, S. 22. Die vollständige Vertonung ist im virtuellen Archiv der Jura-Soyfer-Gesellschaft einzusehen.
16Ein Mitschnitt der Oper ist 1992 als Nr. 39 der Reihe Österreichische Musik der Gegenwart (Herausgeber: Österreichischer Musikrat) bei Classic amadeo (2 CD 437 559) erschienen.
17Das Referat ist mittlerweile gedruckt: Manfred Permoser, „A bisserl bitter – und a bisserl Zucker“ – Zur Musik Jimmy Bergs im politisch-satirischen Kabarett der 30er–Jahre, in: Anklänge 2016. Studien zur österreichischen Popularmusik im 20. Jahrhundert, hrsg. von Christian Glanz und Manfred Permoser, Wien 2017, S. 55–92, hier S. 81.
18Die Abbildung spiegelt die Position des Textes in der Edition 2012. Band 1: Dramatik wider. Die S. 146 füllt die linke Spalte, die S. 147 die rechte. Das gilt in analoger Weise auch für die Abbildungen 4, 6 und 7.
19Edition 2012. Band 3: Dichtungen, S. 35. Selbstverständlich taucht hier die Frage auf, ob Berg diese metrische Sicht mit Soyfer abgesprochen hat.
20Abbildung des Beginns (Faksimile) ebenda, S. 25. Die vollständige Vertonung ist im virtuellen Archiv der Jura-Soyfer-Gesellschaft einzusehen.
21Manfred Permoser (Anm. 17), S. 77.
22Abbildung des Beginns seiner Vertonung (Faksimile) in: Edition 2012. Band 3: Dichtungen (Anm. 15), S. 29.
23Manfred Permoser (Anm. 17), S. 76f.
24Ebenda, S. 82.
25Herbert Arlt, Grenzlinien: Ein Soyfersches Motiv, in: Jura Soyfer and His Time, ed. by Donald G. Daviau, Riverside 1995, S. 6–21, hier S. 19.
26Da dieser Schlußgesang ansonsten ungemein gleichmäßig gebaut ist, muß hinterfragt werden, ob es nicht in der 4. Zeile „Da läßt sich nichts ungescheh’n machen“ (statt „ungeschehen“) sowie in der 30. Zeile „Wir woll’n dich zur Zukunft gestalten“ (statt „wollen dich“) heißen muß. Das auf der website (Soyfer.at) der Jura-Soyfer-Gesellschaft wiedergegebene Original-Typoskript weist einen anderen Schluß auf.
27Edition 2012. Band I: Dramatik (Gedichte für Kleinkunstbühnen), S. 287.