Jura Soyfer, François Villon oder der Literat in Zeiten des Umbruchs

Alice Kolb-Bolterauer
Universität Graz

„Wir sind frei, wir sind kühn,
wir ahnen eine andere Schönheit.“
Ossip Mandelstam

Wie weit muss der Intellektuelle – der Intellektuelle ganz allgemein und der Künstler als Intellektueller im Besonderen – sich in politischer Hinsicht engagieren, Partei ergreifen, seine Stimme erheben? Ist es nicht seine Pflicht, sich in Opposition zum Mainstream zu begeben und der Gesellschaft gerade das ins Gesicht zu werfen, was sie nicht sehen und nicht hören will? Den Finger in die Wunde zu legen, Sand im Getriebe der Welt zu sein? Ist nicht die Stimme des Künstler-Intellektuellen jene nicht korrumpierbare Stimme, die das Unrecht aufzeigt und Missstände benennt? Die sich für die Entrechteten einsetzt, die Ausgebeuteten, die Wehrlosen, die selbst keine Stimme haben? Die die Selbstgerechtigkeit der Bürger attackiert und ihre falsche Legitimation aus den Angeln hebt? Und sind zu diesem Zweck nicht alle literarischen Mittel erlaubt? Von der platten Denunziation bis zur resignativen Ballade, vom kämpferischen Appell zur melancholischen Elegie, von der bissigen Satire zur augenzwinkernden Komödie? Und rührt nicht das Ethos des Künstlers eben von daher – von diesem aufrechten Gang, von der Unbeirrbarkeit seines wachen Blicks, von der Treffsicherheit seines prägnanten Worts? Sprechen ist Handeln, sagt Jean-Paul Sartre in seinem Traktat „Was ist Literatur?“ aus dem Jahr 1947. Und so wie jedes Handeln Folgen nach sich zieht, so auch das sprachliche Handeln. Der Schriftsteller als Sprechender ist nicht einfach ein „tumber Tor“, der nicht weiß, was er tut, oder der gar nichts tut – nein, er „bezeichnet, beweist, befiehlt, lehnt ab, redet an, fleht, beleidigt, überzeugt, legt nahe.“1 Er enthüllt die Dinge, indem er sie benennt. Er macht sie sichtbar, um sie zu verändern. Dieses Sichtbar-Machen durch Sprache bezeichnet Sartre als „Engagement“. „Der ‚engagierte‘ Schriftsteller weiß, daß Sprechen Handeln ist: er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann, wenn man verändern will.“2

Dass alle Literatur immer schon „politisch“ ist, wird in den 1960er Jahren Hans Magnus Enzensberger sagen und sich dabei sowohl auf Sartre wie auf Theodor W. Adorno beziehen. Doch nicht der politische Inhalt eines Textes oder die Ideologie seines Autors machten – so Enzensberger – den politischen Gehalt eines literarischen Textes aus, sondern der politische Gehalt sei dem Gedicht (dem Roman, dem Theaterstück) immer schon immanent. Literatur sei politisch, indem sie oder gerade wenn sie sich der Inanspruchnahme durch Politik entziehe. Enzensberger formuliert pointiert ein scheinbares Paradoxon: „Sein (des Gedichts) politischer Auftrag ist, sich jedem politischen Auftrag zu verweigern und für alle zu sprechen noch dort, wo es von keinem spricht.“3

Die systemtheoretische Literaturwissenschaft würde in solchen Aussagen eine Missachtung systemischer Ausdifferenzierung erkennen wollen und von einer Politisierung der Literatur ebenso Abstand nehmen wie von einer Literarisierung von Politik. Nicht eine Autonomie der Literatur „von“ der Gesellschaft, sondern „in“ der Gesellschaft wird Niklas Luhmann für die Dichtung einfordern.4 Literatur gehorche ihren eigenen Gesetzen, sie verfüge über die ihr eigenen Codes und Kommunikationskonventionen, falsch sei es, von Literatur Anleitungen zu richtigem politischen Verhalten oder zu demokratischer Gesinnung zu erwarten. „Anstößig“ in politischer Hinsicht könne ein Text nur dann werden, wenn die Grenzen, die Politik und Literatur trennen, ignoriert werden und ein literarischer Text als politische Proklamation gelesen werde, was er eben nicht sei – und wenn doch, dann eben nicht Literatur. Es sind – wenig überraschend – die Autoren ästhetizistischer Richtungen, die diese Autonomie der Literatur unterstreichen und ein Überschwappen politisierender Kommentare als übergriffig abweisen. „Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie,“5 heißt es in einem frühen Hofmannathal-Text aus dem Jahr 1896 und dass Literatur ungeeignet sei, politische Inhalte zu transportieren, wird Peter Handke, ein „Bewohner des Elfenbeinturms“, 1967 behaupten.6

Plausibel ist zu vermuten, dass es zu solch „falschen“, politischen Übercodierungen von Literatur immer dann kommt, wenn ein politisches System gerade an der Kippe steht und sich neu strukturiert, wenn also die Notwendigkeit der politischen Neuorientierung alle Bereiche des Lebens zu erfassen droht – und darunter auch die Literatur. Eine solche Zeit scheinen die 1960er Jahre in Deutschland gewesen zu sein – ebenso wie die 1930er Jahre in Österreich oder die 1450er Jahre in Frankreich. Fakt ist, dass sich in solchen Zeiten der politische Diskurs über den literarischen legt und diesen zu ersticken droht – aber eben nur fast. Denn wären die „engagierten“ Texte von Villon und Soyfer aus diesen bewegten Tagen „nur“ Politik und würden wir sie nur als politische Texte lesen, sie wären für die Literaturwissenschaft wenig bis kaum von Belang. Da sie aber Literatur sind, spannende Literatur, und wir als Leser und Leserinnen sie durchaus ästhetisch zu goutieren wissen, begeistern sie uns bis heute – gerade auch wegen und trotz ihrer politischen Inhalte. 1937 schreibt Soyfer – neben Beiträgen über Hofmannsthal, Fichte und Börne – auch einen Artikel über François Villon. Soyfer ist sich des großen zeitlichen Abstands bewusst: „Fünfhundert Jahre sind vergangen. Es geht um andere Probleme als die, die Villon zerfraßen.“7 Was Soyfer am Werk Villons zu schätzen scheint, ist die Parallele des Zeitenumbruchs, des Zeitenwandels. Nur darum geht es – neben einem kurzen Lebensabriss des französischen Poeten – in diesem kurzen Artikel Soyfers: „Alles, was der entwurzelte Intellektuelle in einer Zeit zwischen zwei Zeiten durchmachen kann, hat dieser vor einem halben Jahrtausend ausgesprochen. Woran sich halten, wenn das bestehende Begriffssystem zusammenbricht und ein neues noch nicht greifbar geworden ist?“8 Mit großer Eindringlichkeit schildert Soyfer das Elend der Nachkriegszeit im ausgehenden Mittelalter in Frankreich:

In Paris waren Tausende von Häusern verödet und alle Friedhöfe überfüllt. Mord, Brand, Pestilenz besaßen das Bürgerrecht. Menschen jeden Schlages, jeder Abstammung, Entwurzelte dieses gewaltigen sozialen Umbruchs füllten in ungezählten Scharen die Gefängnisse und Bettlerkolonien.“9

Die alte Welt liegt in den letzten Zügen, doch die neue Welt ist nur in Umrissen erahnbar.

Tür an Tür wohnten in der Seele des Menschen die Weltanschauungen der vergehenden und der kommenden Zeit. Noch lebte und dozierte die Scholastik des Mittelalters. Sie betrachtete die Erde als eine Durchzugsstation via Jenseits. Was dem sterblichen Teil des Menschen hienieden an Lust und Qualen widerfahren mochte, schien bedeutungslos in einem gewaltigen, bis ins kleinste ausgeklügelten System von Hölle, Fegefeuer und Paradies.
Aber schon regten sich die Gedanken einer sinnfreudigeren Epoche. Einer Epoche, da das Lächeln der Mona Lisa und die Künste der doppelten Buchführung die Welt erobern sollten.“10

Das Gefühl, an einer Zeitenwende zu stehen, verbindet den Intellektuellen des 20. Jahrhunderts mit dem des späten 15. Jahrhunderts. Es sei kein Zufall, so Soyfer weiter, dass Villon, „durch viele Jahrhunderte vergessen, gerade um die Wende des unseren wieder bekannt wurde“.11 Seine Wiederauferstehung gerade auch bei Brecht überrasche nicht: „Brecht, an einer alten Welt verzweifelnd und noch nicht auf einer neuen gelandet, konnte in seiner damals noch ratlosen Skepsis auf keinen besseren Kumpan stoßen als Villon.“12 Was bei Soyfers Interesse für Villon fehlt, ist die Wertschätzung Villons als Dichter. Nur der „unsterbliche Lump“13 Villon wird geschätzt, das „Mitglied der Räuberbanden“14, der „genialste Bohemien aller Zeiten“15. Damit steht Soyfer freilich nicht allein. Denn wenn der Name Villons durch die Jahrhunderte hindurch lebendig geblieben ist, dann vor allem auch wegen seines skandalösen Lebenswandels und wegen der unkonventionellen Themen und Motive seiner Dichtung. Im Unterschied zu Deutschland, wo Villon erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, um dann ab der Jahrhundertwende zu ungeheurer Popularität aufzusteigen, ist Villons Renommee in Frankreich nie ganz verschwunden. Clément Marot hat seine Gedichte im 16. Jahrhundert ediert; der Schriftsteller und Literaturtheoretiker Nicolas Boileau nahm ihn im 17. Jahrhundert von seiner pauschalen Mittelalter-Kritik aus; die Romantiker verherrlichten ihn (1832 erschien die erste Edition nach modernen Kriterien, 1834 widmete ihm Théophile Gautier eine vielbeachtete Studie); die symbolistischen „poètes maudits“ sahen in ihm einen ihrer Vorläufer und Wegbereiter und die Chansonniers des 20. Jahrhunderts (Georges Brassens, Leó Ferré oder Serge Reggiani) verhalfen seinen Texten zu immer wieder erneuter Aktualität. Im deutschen Sprachraum wurden Villon-Texte erstmals durch Richard Dehmel (1863-1920) übertragen;16 die echte Villon-Hochzeit ist jedoch der umfassenden Villon-Übersetzung von K.L. Ammer (Pseudonym des Übersetzers und Verlagsleiters Karl Anton Klammer) im Jahr 1907 geschuldet. Aus dieser Übersetzung schöpfen vor allem die Expressionisten (von Heym bis zum jungen Brecht) Anregung und Motivation. Christian Morgensterns „Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid“ verdankt sich ebenso Villon wie Georg Heyms Gedicht „Der Galgenberg“:

„Wir wurden auf den kahlen Berg geführt. Wir sahen in den Lüften die Gerippe, Die Hände auf den Rücken festgeschnürt. Im Winde sprang und tanzte ihre Sippe. […]“17

Und neben den Brecht’schen Moritaten in Villon-Manier, die sich in der „Dreigroschenoper“ finden, ist vor allem die Bearbeitung bzw. Nachdichtung Villon’scher Texte durch Paul Zech erwähnenswert. Zech stilisierte sich selbst zu einem „deutschen Villon“ und gab 1931 seine (erste) Ausgabe der „lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon“ heraus. Sie alle – die Nachdichter, Übersetzer, Neuschöpfer – huldigen dem Freigeist Villon, dem Außenseiter, dem „Underdog“. Noch einmal Soyfer:

„Ein lang andauernder Studentenstreik warf ihn aus der Bahn des Studiums. In Schenken und Freudenhäusern lernte er höchst unheilige Dinge. Sehr bald zählten zu seinen Professoren nicht nur Säufer und Dirnen, sondern auch Diebe und Mörder.“18

Doch nicht weil Villon mit einer Prostituierten zusammenlebte, steckbrieflich gesucht und sogar zum Tod verurteilt wurde oder weil er in seinen Texten einen Bischof verklagte oder einen Staatsanwalt, nicht deswegen (oder nicht deswegen allein) lesen wir Villon, sondern weil seine Texte tolle Texte sind. Virtuos greift er die überkommenen Formen von Ballade, Rondeau, Lais und Gebet auf und wandelt sie ab. Niemand hat vor ihm so „volkstümlich“ geschrieben. Souverän verwendet er die Sprache als Mittel der Satire und greift auf die Kraft des Argots der Coquillards, der Geheimsprache der Verbrecherbanden, zurück, um drastisch vor dem drohenden „halle grup“ / dem „hanfnen Strick“ zu warnen – „denn trotz Gejammer und Gesing,/ der Henker brach ihm das Genick. […]“ / „Et y jargonnast il le tremple,/ Dont l’amboureux luy rompt le suc.“19 In der berühmten „Ballade des pendus“ radikalisiert er das mittelalterliche Rollengedicht, indem er die Gehenkten selbst sprechen lässt und nicht nur den Singsang der im Wind flatternden Leiber imaginiert, sondern auch ihr Übergehen in Verfäulnis und Verwesung nicht ausspart: „La pluie nous a bués et lavés,/ Et le soleil dessechés et noircis;/ Pies, corbeaux, nous ont les yeux cavés,/ Et arraché la barbe et les sourcils.“20

In seinen Nachlässen, dem „Kleinen“ und dem „Großen Testament“, gießt er seinen Spott über Freund und Feind. In 40 Strophen zu je acht Achtsilbern vermacht Villon verschiedenen Personen seiner Umgebung, Guten sowie Bösen, „Gegenstände seines persönlichen Besitzes sowie solche ideeller Art,“ aber auch die „Wirtshausschilder von Pariser Kneipen, wobei er sich jeweils mit ironischem Witz entweder auf Episoden bezieht, die den eingeweihten Lesern bekannt waren, oder persönliche Schwächen der Betroffenen bloßstellt.“21

Item, dem Spitzel Jean le Lou,
der an den Provisiönchen hängt,
ganz dürr und schwächlich noch dazu,
der wie Cholet meist gar nichts fängt,
vermach ich einen Schnüffelhund
für mehr Erfolg beim Vögelfang,
Und als Versteck für Fang und Fund
noch einen Mantel, weit und lang.“
22

Den Feinden wünscht er Schüttelfrost und Furzerei,23 den Verleumdern, dass ihre Zungen „schmoren“,24 und dazwischen streut er noch die „Ballade von der dicken Margot“ ein, wo er von seinem Zuhälterleben und der „Hurentreiberei“ samt Schlägen, Besäufnis und Geschlechtsverkehr schreibt. „Ordure amons, ordure nous assuit, / Nous défuyons honneur, il nous défuit.“ / „Wir sind nicht fein und werden auch nicht fein / und lassen uns auf Anstand gar nicht ein.“25

Das sind keine „feinen“, keine „schönen“ Texte. Sie stören das allgemeine Geschmacksurteil und die herrschende Moral. Sie gelten als anstößig, verrucht, unappetitlich. Zu einem politischen oder moralischen Skandalon werden diese Texte allerdings erst, wenn sie aus politischer oder moralischer Sicht – als Manifestationen einer Unmoral – gelesen werden und ihr literarischer Charakter „vergessen“ wird. Das mag durchaus legitim sein und sowohl aufgrund der Biographie des Autors verständlich und von den Zeitumständen her nachvollziehbar, dennoch greift eine politisch-moralische Lesart zu kurz. Sie engt sich auf den Plot, die Thematik ein und vergisst, dass ein literarischer Text zuerst und in erster Linie Literatur ist und allein literarischen Codes und Systemzwängen verpflichtet. Zum Stein des Anstoßes wird er nur, wenn die Grenzen des Literarischen missachtet werden. Nicht also, weil Literatur immer schon politisch ist, immer schon im Widerspruch zu Politik und Staatsräson sich befindet, sondern weil sie als Literatur literarischen Regeln folgt, nur deshalb kann sie in Konflikt mit Politik (oder Moral oder Religion etc.) geraten.

Sehr häufig stellen sich in der Moderne solche Konflikte nicht (mehr) ein. Weil wir gelernt haben, unsere Kommunikationsweisen zu unterscheiden. Weil wir wissen, wann es angebracht ist, literarisch, wann politisch zu kommunizieren. Es versteht sich für uns, dass politische Sachverhalte, werden sie von Literatur absorbiert, aufhören, politische Sachverhalte Wesen nach immer schon politisch, sondern beide Systeme beobachten26 einander, nehmen einander in Anspruch, reagieren aufeinander. Dass dabei die Eigengesetzlichkeit von Literatur den Widerspruch der Politik hervorrufen wie umgekehrt die Politik den Einspruch der Literatur provozieren kann, versteht sich.

Das gilt auch für Jura Soyfer. Trotz seines Selbstverständnisses als politisch engagierter Autor – Stichwort: „Ob das, was wir schaffen, Kunst ist oder nicht, das ist uns gleichgültig. Wir dienen nicht der Kunst, sondern der Propaganda“27 – gilt das Interesse der Literaturwissenschaftlerin in erster Linie dem Literaten Soyfer. Der politische Impetus mag bei der Betrachtung der journalistischen Texte im Vordergrund stehen, bei den Kurzgeschichten und vor allem bei den Theaterstücken dominiert der literaturwissenschaftliche Zugang. Denn wenn Soyfer ab einem gewissen Zeitpunkt zum dramatischen Genre greift, dann mag dies zwar tatsächlich mit praktisch-zensurabhängigen Gründen zusammenhängen, auf einer zweiten Ebene lässt sich diese Entscheidung auch systemtheoretisch argumentieren: als Rückzug auf den Bereich des Literarischen, wo politisch-moralische Überlegungen fehl am Platze sind. Dass es Soyfer aber nicht bloß um eine evasive Oberflächenbehübschung geht (à la: was vorher Dokumentation war, heißt nun Komödie), sondern darum, die Eigengesetzlichkeit literarischer Kommunikation für eine Aushebelung politischer Tatsachensetzung und Tatsachengläubigkeit zu nutzen, scheint mir offensichtlich. Die Entscheidung für das Schauspiel ist somit nicht einfach nur ein plausibler Ausweg, sondern ein Perspektivenwechsel. Was vorher Appell und Anprangerung war, ist nun das Spiel mit Möglichkeiten. Der politische Wandel erscheint nicht mehr als aktuelles Erfordernis und auch nicht als Utopie, sondern als Möglichkeit. Der Möglichkeitssinn lasse sich als „Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“,28 heißt es in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. „Offenbar sucht die Kunst ein anderes, nichtnormales, irritierendes Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation, und allein das wird kommuniziert“,29 formuliert Niklas Luhmann in seiner „Kunst und Gesellschaft“. Genau das macht Soyfer in seinen Stücken. Zu zeigen, dass die Welt anders sein könnte – und nicht, dass sie anders sein wird oder anders sein muss –, darum geht es. Dabei mag in der Schwebe bleiben, ob die Literarisierung sich einer größeren Resignation Soyfers oder seinem stärker gewordenen Pragmatismus verdankt. Tatsache ist, dass mit dem literarischen Genre das Spektrum politischer Handlungsmöglichkeiten erweitert wird. Die Einlinearität des kommunistischen Kampfes macht dem Ausloten verschiedener Möglichkeiten Platz.

Dieses Spiel mit diversen Möglichkeiten und das Absehen von den Zwängen der Tagepolitik manifestiert sich in den Stücken selbst auf vielfältige Weise: als Spiel im Spiel, als Aus-der- Rolle-Fallen, in den Kommentaren im Beiseitesprechen oder in den Songs, in den metaisierenden Regieanweisungen oder in den intertextuellen Verweisen. Die real existierenden Probleme und Missstände werden nicht geleugnet oder geschönt, sie sind nach wie vor vorhanden, aber die Art, wie mit ihnen umgegangen wird, welche Lösungen vorgeschlagen oder ausprobiert werden, das gleicht nun einer Jonglage mit literar-ästhetischen Versatzstücken oder auch mit ideologischen Seifenblasen. Da gibt es zum Beispiel in „Astoria“ diese wunderbare Szene, wo der Vagabund Hupka die bestehende Welt imaginär aus den Angeln hebt, indem er eine hollywoodeske Lösung seines Obdachlosenschicksals mit amerikanischer Millionärin, Auto und Revolver imaginiert:

HUPKA: […] müßte jetzt zwanzig Schritte hinter mir ein Packard-Auto bremsen – (Bremsgeräusch), und eine Millionärin müßte aussteigen mit Autobrille und Revolver (Auftritt Gwendolyn; sie hat einen Revolver gezückt) und müßte mir im reinsten Hollywoodisch zurufen –
GWENDOLYN: Hello, wollen Sie mit mir nach London kommen?“30

Die imaginierte Szene, die nur im Rahmen eines Theaterstücks Realität werden kann, ist absurd, verkehrt, unmöglich; aber in ihrer Unmöglichkeit blitzt für eine Sekunde eine Idee davon auf, wie es anders sein könnte – ohne soziale Unterschiede, ohne Vorurteile und ohne Ungerechtigkeit. Diese „andere“ Welt ist allerdings eine nur „gespielte“, eine fiktive und sie wird von Anfang an als solche klar gemacht. Denn Hupka zieht bereits vor dem Auftreten von Gwendolyn die Markierung für die Welt der Fiktion:

HUPKA: Wie wär‘ es, wenn es irgendwo in der Welt eine Grenzlinie geben täte, nämlich eine ganz spezielle Grenzlinie zwischen dem Reich der Wirklichkeit und dem Reich der Märchen – und wenn ich jetzt zufällig und ahnungslos auf dieser Grenzlinie herumspazieren täte.“31

Auf der „Grenzlinie“ zwischen Wirklichkeit und Märchen lässt Soyfer seinen Protagonisten Hupka spazieren – keineswegs „zufällig“ oder „ahnungslos“, sondern im Wissen um die Differenz von Politik und Kunst. Was im Bereich der Politik ein sozialer Missstand ist (das Schikanieren von Vagabunden oder überhaupt die Tatsache, dass es bettelnde Vagabunden geben muss), ist im Bereich der Kunst der plot point einer spannenden Story. Interessant ist, dass Soyfer seinen Protagonisten tatsächlich im Bereich der Wirklichkeit beginnen, ihn dann in den Bereich der Fiktion hinüberwechseln und am Ende wieder in der Wirklichkeit ankommen lässt – all dies allerdings im Medium des Theaterstücks: Fiktion hoch zwei, ließe sich also sagen.

Die Potenzierung der Fiktionalitätsebenen nimmt den Stücken jedoch nichts von ihrem politischen Gehalt – oder besser: schränkt die Möglichkeiten der politischen Beobachtung von Soyfers Theaterstücken keineswegs ein. Beinahe eher das Gegenteil ist richtig. Denn in der künstlerischen Jonglage mit diversen Möglichkeiten treten die „unmöglichen“, i.e. inakzepatblen Tatsachen von Gesellschaft und Politik umso greller hervor. Wenn etwa der Landstreicher Paul imaginiert:

In Astoria sind im Winter die Straßen geheizt, daß die Obdachlosen nicht frieren. In einem jeden Schanigarten wachsen schippelweise Bananen, reife, westindische. In Astoria saufen die Menschen nicht aus Unglück, sondern aus Glück. Weil in Astoria ist alles gratis. Sogar das Geld. Und die Mädeln tragen Sommerkleider …“32

oder wenn die angehende Prostituierte Rosa phantasiert:

In Astoria macht niemand Geschäfte. In Astoria wird alles aus Liebe gemacht. Oder gar nicht. Sogar die anständigsten und reichsten Frauen heiraten dort aus Liebe. In Astoria kriegen die Frauen die Kinder nicht aus Unglück, sondern aus Glück. Alle Menschen wohnen in kleinen Häusern am Land. Jeder hat einen Garten mit Glaskugeln, Gartenzwergen, Turteltauben, Hängematten, Veilchenbeeten und Rehen und Hirschen,“33

dann handelt es sich ganz offensichtlich um Traumerzählungen, um Phantasieerzählungen, die auch als solche kenntlich gemacht sind. Immer wenn ein Mondstrahl auf das Schild der Astorischen Botschaft fällt, beginnen die Träumereien. Es handelt sich dabei aber auch um Phantasieerzählungen, die gerade als solche zu einer politischen Beobachtung herausfordern. In ihrer Fiktionalität und „Unwirklichkeit“ werfen sie Schlaglichter auf soziale und politische Schieflagen.

Literatur sei politisch, wenn oder gerade weil sie sich der Inanspruchnahme durch die Tages- oder Parteipolitik entziehe, hatte Enzensberger behauptet. Gerade das lyrische Gedicht, das der „Macht der Vergesellschaftung“ anscheinend besonders weit entfernte lyrische Gedicht könne als Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Unbehagens gelesen werden, hatte Theodor W. Adorno in seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“34 von 1957 gemeint. Das in der Gesellschaft autonome Gedicht erlaube eben auch eine politische Lesart, hatte die Systemtheorie geschlussfolgert.

Die poetische Imagination kritisiert auf indirekte Weise das bestehende System unter Umständen stärker, als jeder plumpe direkt-politische Aufruf es vermöchte. Zum „Skandal“, zum „Aufruhr“ werden diese Texte allerdings nur dann, wenn die politische Lektüre überwiegt und nur noch die Kritik an Gesellschaft und Politik gelesen wird. Ähnlich wie Soyfer nutzt auch François Villon die Mittel des Rollenspiels, der Verulkung, der Übertreibung und der Parodie, um Missstände … eben nicht klar zu benennen, sondern sie wie hinter einer Folie durchscheinen zu lassen. Nacheinander schlüpft Villon in die Rolle der alternden Dirne oder des Zuhälters, des Büßers, der sein Leben verpfuscht hat, oder des bedenkenlosen Coquillards. Indem er (scheinbar) die Korruption der hohen Amtsträger lobt oder die feinen Speisen der hohen Geistlichkeit auflistet, legt er den Finger auf die Ungerechtigkeit in dieser Welt. Er versetzt sich (scheinbar) in die Rolle der gehenkten Verbrecher und bittet die Vorbeigehenden um ein Gebet und Gott um Nachsicht und schildert eben dadurch die Brutalität und Ungerechtigkeit der Gesellschaft. In der „Ballade der guten Ratschläge“ macht er sich über aufgezwungene Ordnung lustig – „Ordre nous faut, état ou aucun port“35 – und in der „Ballade der falschen Wahrheiten“ imaginiert das lyrische Ich – durchaus ähnlich wie Soyfers Paul und Rosa – eine verkehrte Welt, in der nur den Lumpen Ehre zuteilwird und in der nur das Schauspiel „Wahrheit bringt“ / „Il n’est que […] Lettre vraie qu’en tragedie“.36 Nicht die Wahrheit ist in der Kunst zu finden, aber im Möglichkeitsraum der Kunst sind Optionen ausprobierbar, kann mit Alternativen gespielt und können andere, vielleicht bessere Weisen des In-der-Welt-Seins vorgestellt werden. Dies ist möglich, weil die Regeln und Codes des politischen Systems hier nicht gelten. In Zeiten des Umbruchs, in den umwälzenden Tagen Villons und Soyfers ist dieser Raum des Experiments denk- und überlebensnotwendig. Die alten Glaubenssätze gelten nicht mehr, neue sind noch nicht etabliert. Den alten „Sprichwörtern“37 und üblichen „Redensarten“38 ist nicht mehr zu glauben. Der Bereich der Literatur bietet sich an, um mit neuen Möglichkeiten zu experimentieren – nicht, um sich politisch zu engagieren, sondern um den Möglichkeitsraum zu erweitern, indem die Perspektiven anders, den Kommunikationskonventionen von Kunst und Literatur folgend, gesetzt werden. Die Orte mögen „Astoria“, „Vineta“ oder „Parouart“ (das Paris der Coquillards) heißen und sie mögen als Gegenentwürfe zu einer schlechten Gegenwart und tristen Wirklichkeit gedacht und entworfen sein, heutige Leser und Leserinnen faszinieren sie als originelle Fantasy und als packende Literatur.

1 Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? Hg., neu übersetzt und mit einem Nachwort von Traugott König. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2018, S. 24.

2 Ebda, S. 26.

3 Hans Magnus Enzensberger: Poesie und Politik. In: Ders.: Einzelheiten II. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 134.

4 „Gegen Adorno gewendet, geht es dabei nicht um ‚Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber‘ […], sondern um Verselbständigung in der Gesellschaft.“ Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986, S. 620-672, 622.

5 Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben. In: Ders.: Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Bd 8: Reden und Aufsätze I. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt/Main: Fischer 1979, S. 13-19, 16.

6 Peter Handke: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. In: Ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981

7 Jura Soyfer: François Villon (Der unsterbliche Lump). In: Ders.: Das Gesamtwerk. Band: Prosa. Hg. von Horst Jarka. Wien, München, Zürich: Europaverlag 1984, S. 231-233, 233.

8 Ebda, S. 232

9 Ebda, S. 231. Französische Historiker bestätigen die prekäre Lage eines Großteils der Bevölkerung: „Dans une économie précaire où alternent les années de prospérité et les années de catastrophe, toute une population de très faible niveau de vie se trouve périodiquement rejetée dans la catégorie des pauvres sans ressources: guerres, intempéries, famines, épidémies se partagent, à la fin du Moyen Âge, la responsabilité de ces années de crise.“ Zit. nach Peter Brockmeier: François Villon. Stuttgart : Metzler 1977, S. 67.

10 Soyfer, François Villon, S. 231

11 Ebda, S. 232

12Ebda.

13 Ebda, S. 231.

14 Ebda, S. 232.

15 Ebda, S. 233.

16 1892/93 übertrug Dehmel zwei Villon-Balladen und zwar das „Lied der Gehenkten“ und das „Lied des vogelfreien Dichters“ (beide sind in dem Gedichtband „Aber die Liebe“ 1893 erschienen).

17 Georg Heym: Der Galgenberg. In: Ders.: Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Stephan Hermlin. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 136-138, 136.

18 Soyfer, François Villon, S. 232.

19 François Villon: Die Jargon-Ballade II. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 244-247, 244f..

20 François Villon: Grabschrift. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 232-235, 232f.

21 Klaus Engelhardt: Le grand testament Villon et le petit. In: Hauptwerke der französischen Literatur. Hg. von Irene Schwendemann. Mit einem einleitenden Essay von Erich Köhler. München: Kindler Verlag 1976, S. 51- 53, 51

22 François Villon: Das Testament. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 33-189, 117

23Ebda.

24Ebda. S. 141.

25 Ebda, S. 156f.

26 Unter dem Titel „Beobachtungen der Literatur“ sind Gerhard Plumpe und Niels Werber den gegenseitigen Inanspruchnahmen von Literatur und Umfeld nachgegangen. Gerhard Plumpe, Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1955.

27 Zit. nach Horst Jarka: Einleitung. In: Jura Soyfer: Das Gesamtwerk. Band: Szenen und Stücke. Hg. von Horst Jarka. Wien, München, Zürich: Europaverlag 1984, S. 7-20, 8.

28 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Bd 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 16.

29 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996, S. 42.

30 Jura Soyfer: Astoria. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Band: Szenen und Stücke. Hg. von Horst Jarka. Wien, München, Zürich: Europaverlag 1984, S. 11-150, 114.

31Ebda.

32 Ebda, S. 127

33 Ebda, S. 128.

34 Adorno, Theodor W.: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 48-68.

35 François Villon: Ballade der guten Ratschläge. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 192-195, 194.

36 François Villon: Ballade der falschen Wahrheiten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 200- 201.

37 François Villon: Ballade der Sprichwörter. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 194-197

38 François Villon: Ballade der kurzen Redensarten. In: Ders.: Sämtliche Werke. Französisch und deutsch. Hg. und aus dem Französischen übersetzt von Carl Fischer. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1992, S. 198- 199.