Präsentation beim Soyfer Symposion 2021
„Guten Morgen, Knirpse! Habe
Ich euch etwa gar erschreckt?
Euer lästiges Geschabe
Hat mich aus dem Traum erweckt…“
Mit Jura Soyfers Gedicht „Saurier erwache“, erstmals veröffentlicht in „Der Kuckuck“ am 25. Juni 1933, begann 80 Jahre später, am 15. September 2013, die erste Montafoner Theaterwanderung in Gargellen. Das ist der Ort, zur Gemeinde St. Gallenkirch gehörend, von dem aus Jura Soyfer und Hugo Ebner am 13. März 1938, getarnt als Skifahrer, in die Schweiz zu entkommen versuchten. Leider wurden sie von einer Gendarmeriepatrouille kontrolliert und schließlich verhaftet. Als Vorwand diente, so Hugo Ebner nach dem Krieg, eine Sardinenbüchse, „die unnötigerweise in Zeitungspapier eingepackt war. Diese Zeitung war eine durchaus legale Gewerkschaftszeitung aus dem Jahr 1936, also eine vaterländische. Aber “der tonangebende Nazi des Trios „hat sie als eine illegale Zeitung betrachtet und darauf bestanden, dass wir […] mitkommen.“1
Im Wissen um Soyfers Geschichte entwickelte teatro caprile nach zwei lokalhistorischen Stationentheaterproduktionen in Wiener Gebäuden 2013 in Kooperationen mit den Montafoner Museen die Idee einer Theaterwanderung zum Thema Grenze. – Frühe Arbeitsmigration, Butter- und Kaffeeschmuggel, um nur einige Themen zu nennen, wären ebenfalls zur Disposition gestanden, doch entschieden wir nach einiger Überlegung – jedoch 2 Jahre vor der großen Flüchtlingswelle 2015 – uns auf die Fluchtversuche in die Schweiz während des Nationalsozialismus zu konzentrieren. Wichtig ist uns dabei, auch auf die ablehnende Haltung der eidgenössischen Behörden gegenüber den flüchtenden Juden hinzuweisen – wenngleich dieser Umstand bei Soyfer gar nicht mehr zum Thema werden konnte.
Roland Etlinger als Schweizer Zöllner
(c) Herbert Gmeiner 2017
Wie aber nun Jura Soyfer, dessen Stücke nichts mit den Alpen zu tun haben und der im Winter auf Skiern verhaftet wurde, in eine Theaterwanderung einbauen die im Sommer stattfindet? – Schnell war die Idee geboren, in Zeitungspapier eingewickelte Sardinendosen als Eintrittskarten zu verteilen. Der Hintergedanke war und ist, dass das Publikum am Scheitelpunkt der Wanderung auf 1.900 Metern beim Picknick die Dosen auspackt und aufgrund der bewusst unterschiedlichen Zeitungen ins Lesen und Reden kommt. Das Vorarlberger Volksblatt vom 16. Februar 1938 beschäftigt sich noch mit dem Berchtesgadener Abkommen, die „Jüdische Presse – Organ für die Interessen des orthodoxen Judentums“, vom 11. März ruft zur Teilnahme an der von Schuschnigg angesetzten Volksabstimmung auf und „Der Anzeiger für die Bezirke Bludenz und Montafon“ vom 19. März feiert bereits den Anschluss.
Und weiter? – Da entdeckte ich in Soyfers gesammelter Lyrik das Gedicht „Saurier erwache“ mit den Versen
„Manchmal schufen Riesenechsen
von besonderer Statur,
Schlau und roh zu fünfen, Sechsen,
eine Urwalddiktatur.
Wer nicht kuschte ward zerrissen,
auf der Flucht im Urgestein“
Damit war der Titel der Theaterwanderung- AUF DER FLUCHT – endgültig gefunden. Zudem erwies sich das Gedicht aufgrund seiner ersten Worte „Guten Morgen, Knirpse!“ – die Theaterwanderung startet um 9 Uhr morgens – dramaturgisch und schauspielerisch als idealer Opener, da das Publikum gleich direkt angesprochen wird. Natürlich betritt kein musealer Tyrannosaurus die Gaststube des traditionsreichen Hotel Madrisa, in der die Wanderung beginnt, sondern ein mäßig sympathischer Macho, der recht bald zufrieden feststellen kann, dass noch immer das Recht des Stärkeren regiert. – Verwirrt dieser Einstieg auch manche, so erfährt das Publikum durch unseren Guide und spätestens durch die zu unserer Aufführungspraxis gehörenden Gespräche nach der Vorstellung, dass Soyfers weitblickendes Gedicht bereits unmittelbar nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland veröffentlich worden ist. Leider haben zu wenige auf ihn gehört.
Maria King und Andreas Kosek
(c) montafon TV 2018
Was ist darüber hinaus das Besondere an einer Theaterwanderung? „Wir suchen Orte auf, an denen sich schicksalhafte Szenen abgespielt haben.“ Basierend auf Zeitzeugenberichten, historischen Dokumenten und literarischen Texten spürt teatro caprile in theatralischen und tänzerischen Streiflichtern den Fluchten während der NS Zeit nach: Der Entwurzelung dieser Menschen, ihren Strapazen in einer hochalpinen Region, ihrer oftmals tödlichen Abhängigkeit von lokalen HelferInnen inmitten kleinräumiger Dorfstrukturen und sozialer Kontrolle oder der Menschlichkeit der Grenzwächter.
Maria King und Katharina Grabher
(c) Walter Kegele 2013
Zeitzeugen K.Grabher und R.Etlinger
(c) Herbert Gmeiner 2017
Dabei wird die Bedeutung lokaler Geschichte und ihrer Protagonisten innerhalb nationaler und internationaler Politik besonders sichtbar. Emotionale Dichte und historische Fakten machen „Auf der Flucht“ zu einem beeindruckenden kulturellen und künstlerischen Event. Gespielt wird im Hotel Madrisa, in Alphütten und im freien Gelände, die dargestellten Figuren und das Publikum durchmessen gleichermaßen das herrliche Gebirgspanorama in Richtung Sarotla-Joch. – Über Soyfer weit hinausgehend setzen wir somit nicht auf Satire, sondern Teilhabe. Publikum wie Schauspielende erleben die körperliche Anstrengung des Wanderns, das Bühnenbild Landschaft, von Kühen, Pferden und Eseln bevölkerte Almen und die unterschiedlichsten Wetterbedingungen. Daraus wird ein gemeinsames Erleben, denn wir fliegen nicht mit dem Hubschrauber voraus und haben auch keine warme Dusche hinter der nächsten Tanne.
Untere Röbi Alpe 2020
(c) Friedrich Juen
Obere Röbi Alpe 2017
(c) Stefan Kothner, Montafon Tourismus GmbH
Regen und Sonnenschein sind also echt, trotz dem haben wir keinen naturalistischen Anspruch, sondern uns geht es darum, die Strapazen und Ängste der Flüchtenden intellektuell und körperlich erahnbar zu machen. Eine wesentliche Rolle bei den Literarischen Vorlagen spielt Franz Werfels Romanfragment „Cella oder die Überwinder“, dem u.a. auch folgender Gedankengang entnommen ist, der sich auch mit Soyfers Eingangsgedicht verknüpft:
Mark Német und Andreas Kosek
(c) Stefan Kothner, Montafon Tourismus GmbH 2017
„Die Naturgeschichte erzählt uns, dass in den frühen Erdepochen jeweils eine andre Tierart vorgeherrscht hat. Die Echsen zum Beispiel und dann die Reptilien. Gegenwärtig ist die Tierart des Weißstrumpfs2 an der Reihe, die Erde zu erobern und sie umzuprägen. Schauen Sie sich nur gut die Photographien in sämtlichen illustrierten Zeitungen an, gleichgültig wo, in Amerika, in Russland, in Deutschland, ja sogar bei den Farbigen. Immer derselbe Typus, schlank, hübsch, muskulös, mit leeren Augen, aktivistischem Kinn und blitzenden Filmzähnen. Schwimmend, springend, laufend, boxend, motorisiert von A bis Z! Einer wie der andre. Man kann die Gesichter von Pferden und Hunden leichter auseinanderhalten als die Gesichter der Weißstrümpfe. Der Kollektivtrieb, die Persönlichkeitsfeindschaft ist nicht die Folge dieser Umprägung; sondern ihre Ursache, ebenso wie die dazugehörige Politik.“
Gleich die Pilotaufführung 2013 – gezeigt im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Septimo“ der Montafoner Museen – war ausgebucht und wurde mit einem schönen Bericht in ORF-Vorarlberg, für den sich das ORF Team tapfer den Berg hinauf gekämpft hatte, belohnt. Mit dabei war auch ein Team des regionalen Montafon TV, das einen längeren Beitrag mit Interviews zusammenstellte und dessen Filmmaterial uns viele Jahre als Grundlage unserer teaser diente. 2014 und 2015 wuchs die Zahl der Zuschauenden bei 5 bzw. 6 Aufführungen noch zaghaft, mit dem Hauptpreis der Vorarlberger Tourismusinnovationen ging es steil bergauf. Seit 2017 werden 9 Termine im Sommer angeboten und im ersten Corona-Jahr war sogar eine Zusatzvorstellung schnell ausgebucht. Durch unseren Partner Montafon Tourismus tatkräftig unterstützt, können wir mittlerweile auf zahlreiche Pressemeldungen in Deutschland (z.B. Deutschlandfunk) und mehrere Ö1-Beiträge zurück blicken!
Bei dem 2018 von den Gargellner Bergbahnen in Kooperation mit den Montafoner Resonanzen angeregten Begleitprogramm „Gargellner Rucksacklesung“ in der Talstation der Schafbergbahn präsentierten wir 2018 und 2019 neben dem Saurier-Gedicht die bereits erwähnten Erinnerungen Hugo Ebners sowie Ausschnitte aus Soyfers Stück „Der Weltuntergang“ – bearbeitet für drei Darstellende. Szenen aus diesem und anderen Stücken Soyfers fügte caprile bereits 2012, zu Juras 100 Geburtstag, zur „JURA SOYFER REVUE“, die nach Auftritten u.a. in Wien, Zagreb, Krakau und Czernowitz 2014 auch ins Montafon eingeladen war, ins Hotel Vitalzentrum Felbermayer nach Gaschurn.
Zuletzt gastierten der Saurier und Ebners Text am 15. Oktober 2021 bei der Lesung „Gargellen grüßt Wien“ in der Wiener Zwinglikirche.
2022 wird es „Auf der Flucht“ zum 10. Mal geben – ob zum letzten Mal, wird die Nachfrage entscheiden. Tickets für 2022 können ab sofort online gebucht werden. Die überschwänglichen Feedbacks von Presse und vor allem Publikum auf das Format „Theaterwanderung“ regten uns und interessierte Veranstalter zu weiteren Projekten an. Leider einjährig blieb 2015 das Stück zum 150-Jahre-Jubiläum der Erstbesteigung des Piz Buin. Seit 2016 aber beschäftigt sich die Krimmler Theaterwanderung – FLUCHT ÜBER DIE BERGE – mit der illegalen Auswanderung von Holocaustüberlebenden aus Lagern wie Saalfelden (in Salzburg) nach Italien im Jahre 1947! Ab Februar 2022 sollte nun auch endlich die Winter-Theater-Wanderung „SKI LABOR LECH“ von Zug nach Lech am Arlberg durchgeführt werden können. Die Szenen handeln von der Entwicklung des alpinen Skilaufs und des Wintertourismus; und damit unter anderem auch von dem Tourismuspionier Ing. Rudolf Gomperz, der 1942 im KZ Maly Trostinez ermordet wurde.
Zusätzliche LINK-Sammlung
AUF DER FLUCHT – ORF Bericht 2013
https://www.youtube.com/watch?v=0qJ0rd73I_M
AUF DER FLUCHT – Montafon TV Bericht 2013
https://www.youtube.com/watch?v=ppB3XMCUoTE
HAUPTPREIS – Vorarlberger Tourismusinnovationen 2016
https://www.youtube.com/watch?v=aYCUJYZWEo8
AUF DER FLUCHT – Deutschlandfunk 2018
JURA SOYFER REVUE
https://www.teatro-caprile.at/prod/2015-10/20-jura-soyfer-revue-2012-2015
AUF DER FLUCHT – Onlinebuchung 2022
PIZ BUIN
https://tvthek.orf.at/history/Vorarlberg/13557895/150-Jahre-Erstbesteigung-des-Piz-Buin/13968760
FLUCHT ÜBER DIE BERGE
https://www.teatro-caprile.at/47-produktionen/produktionen-2022/85-an-die-grenze-2022
SKI LABOR LECH
https://www.teatro-caprile.at/47-produktionen/produktionen-2022/71-lech
(c) Andreas Kosek, Jänner 2022
1 https://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/anschluss-maerz-april-1938/hugo-ebner-wir-versuchen-es-ueber-die-berge (abgerufen 29.12.2021)
2 Kennzeichen der illegalen Nazis in Österreich.