Der Kontext dieser Installation ist die Buchmesse in Leipzig vom 27.-30.4.2023, in deren Rahmen mit Millionen versucht wurde, etwas zu simulieren, was in der Realität nicht existiert. Nicht untypisch für solch eine Veranstaltung ist, dass die politische Spitze sie beehrt. Der ORF war Partner und hat breit berichtet. Wieder hat er bewiesen, dass es keinen Anlass gibt, ihn mittels einer Haushaltsabgabe zu finanzieren.
Ein weiterer Kontext ist das Programm Kulturerbe digital. Es korrespondiert ausgezeichnet mit dem Programm digitaler Humanismus. Zwar vermeidet der Strategietitel die Formulierung digitales Kulturerbe, aber im Text wird das Sprachkonglomerat „digitaler Humanismus“ verwendet. Sprachlich wird damit etwas ausgedrückt, das das Gegenteil von dem meint, was inhaltlich intendiert ist. Im einen Fall wird versucht, durch das Erbe die Digitalität zu prägen, die sich durch derartige Intentionen nicht in ihrer Struktur von 0 und 1 beeinflussen lässt, sondern das Erbe reduziert, im anderen Fall wird nicht 0 und 1 bzw. Maschinen Humanismus gemeint, sondern im Gegenteil soll der Mensch in den Mittelpunkt gestellt werden. Auch nach einem Vierteljahrhundert ist der Zugang zur Digitalität durch die bestens bezahlten RepräsentantInnen dieses Staates und anderer Verwaltungen nicht gefunden.
Im Falle der Installation wird Jura Soyfer in den Mittelpunkt gestellt. In Stücken wie Der Weltuntergang, Der Lechner Edi hat er literarisch dargestellt, was Maschinen für die menschliche Kultur bedeuten, in welchem Verhältnis sie zueinanderstehen bzw. zu stehen haben, welche Folge es hat, wenn Menschen zu Nummern werden. Aber nicht solch ein Text wurde verwendet, sondern ein Agitprop Text aus der Arbeiter-Zeitung von 1932, der Teil eines Epos ist, das es erst zu erlesen gilt.
Die beiden ausgewählten Verszeilen machen es schwer, das Dichterische zu erkennen:
Dieser Staat läßt sich nicht lumpen,
Wenn er sich belumpen läßt
Und das ist auch Sinn der Installation, die sich quer zur staatlichen Förderung von Programmen stellt, die sprachlich-programmatisch anderes ausdrücken, als sie inhaltlich meinen und damit grundsätzlich destruktiv sind, Möglichkeiten nicht wahrnehmen, die von der Jura Soyfer Gesellschaft bereits seit 1992 für das Jura Soyfer Archiv erkannt wurden. Teil des Antipluralismus, der strukturellen Korruption ist die Nicht-Förderung von solchen Programmen. Die Folge ist, dass das Prinzip einer „offenen Suchmaschine“ etc. von anderen realisiert wurde.
In diesem Kontext ist ein historischer Diskurs hilfreich, da es nicht nur um Wortanalysen geht. Dieser sprachliche Unsinn, der übernommen wurde, konnte sich nur im Rahmen des Autoritarismus behaupten, der sich festgesetzt hat, auch wenn sich das Wording zu Inhalten wie Nationalsozialismus, Austrofaschismus, Antisemitismus änderte.
1978 fand in Österreich die erste Lehrveranstaltung zur österreichischen Literatur der 1930er Jahre an einer österreichischen Universität in Salzburg statt. An dieser Lehrveranstaltung nahm ich teil. Meine Wahl für eine Seminararbeit fiel auf Jura Soyfer, weil er sich mit seinen Gedichten intensiv mit österreichischer Geschichte beschäftigte, die ich von meiner Eliteschule nicht kannte. Der Direktor war ein ehemaliger Nazi, der Religionslehrer studierte auf der Napola, der Englischlehrer schrieb ein Buch mit dem Titel Руки вверх.
Mit Jura Soyfer, der 1912 im zaristischen Kharkow geboren wurde und 1920 als Flüchtling nach Wien kam, begann mein Zugang zur österreichischen Geschichte. Salzburg war für mich als Studenten die Universität eines neuen Weltzugangs: Rudolf Ardelt (Geschichte der Arbeiterbewegung), Gerhard Botz (Geschichte des Nationalsozialismus), Fritz Fellner (Methodologie der Geschichtswissenschaften), Hans Haas (Österreich und seine Slowenen), Herbert Steiner (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes), Erika Weinzierl (Kritik des Nationalsozialismus).
Aber es ging vor allem auch um Sprachen, Literaturen, Künste: Walter Weiss (Projekt einer österreichischen Literaturgeschichte), Hans Höller (neue Formen der Literaturinterpretation), Ulrich Müller (neuer Zugang zur mittelalterlichen Literatur), Karl Müller (Aufarbeitung der österreichischen Antimoderne).
Gerade mit diesen beiden Verszeilen lässt sich viel über Soyfer und sein literarisches Werk, seine Biographie aussagen. Denn es geht nicht nur um den österreichischen Staat der 1930er Jahre. Es geht um die Staaten der Reichen, um die Korruption. Es geht um jene, die Arme (Paria) als Schimpfwort für Staaten verwenden, um jene zu bezeichnen, die nicht zum Club der Reichen gehören.
Es geht um die spezifische österreichische Sprache, die Soyfer verwenden konnte, obwohl seine Muttersprache Russisch und seine zweite, erlernte Sprache Französisch waren. Aber seine Stücke sind eine sprachliche Polyphonie, die auf seine Ausbildung am Gymnasium in der Hagenmüllergasse in Wien, aber auch auf seine Weltzugänge verweist: Deutsch (sogar in norddeutscher Variante), Englisch, Französisch, Latein, Polnisch etc.
Im Zentrum der Installation steht daher die Sprachverwendung Jura Soyfers. Sie steht im diametralen Gegensatz zu Franz Nabl, der sich als „Deutscher“ (auch im nationalsozialistischen Sinn) verstand, obwohl er sein Leben lang insbesondere von deutschen Verlagen wegen seiner österreichischen Sprache kritisiert wurde. Auch einer, der sprachlich-programmatisch das Gegenteil von dem sagte, was er eigentlich schrieb.
Teil der Installation ist die Öffentlichkeit für dieses Gedicht: die LeserInnen der Arbeiter-Zeitung (Zentralorgan der Sozialdemokratie) der ersten österreichischen Republik, aber dann auch die Öffentlichkeit für die soziale Demokratie nach 1945.
600 Seiten umfasst meine Dissertation von 1987. Es dauerte ein Jahr, bis sie approbiert wurde, weil ich nicht bereit war, den Begriff „Austrofaschismus“ zu streichen. Sie basiert auf Dutzenden Zeitzeugenberichten, auf Archivstudien in vielen Ländern, aber vor allem auch auf neuen Textzugängen, die ich später in Theatern, Zeitschriften, Radio, den Übersetzungsarbeiten in rund 50 Sprachen etc. ausprobierte.
Jura Soyfer ist heute weltweit als Dichter bekannt, der sich mit seinem Lachen gegen Nationalismus, Diktaturen durchsetzte. Sein Werk wurde in über 50 Sprachen übersetzt. Darunter anfangs der 1990er Jahre ins Bulgarische. Und diese Übersetzungen haben viel mit Spracharbeit zu tun.
Die Installation verweist aber auch auf die Änderung der Öffentlichkeit. Die Arbeiter-Zeitung gibt es heute nicht mehr. Die Jura Soyfer Gesellschaft stellte 2007 ihre gedruckte Zeitschrift ein. Sie gibt heute keine Bücher, CDs, DVDs etc. mehr heraus, sondern verkauft Restbestände. Ein Projekt mit dem ORF zur Herausgabe der Hörspiele scheiterte, weil nur eine geringe Nachfrage zu erwarten war (ganz im Gegensatz zu: Jura Soyfer – So starb eine Partei – Helmut Qualtinger Hörbuch Audio-CD von Jura Soyfer (Autor). ORF-Edition Radio Literatur, 2002, Doppel-CD. ISBN: 9004629321035 – diese war seinerzeit noch bestens nachgefragt worden). Auch die DVD mit der Oper „Der Weltuntergang“ nach Jura Soyfer von Wilhelm Zobl wurde in diesem Kontext nicht produziert.
Die Installation zeigt, was Realität ist: die Verbreitung der Texte, der Lieder im Internet. Das ist eine Grundlage für die weltweite Verbreitung von Jura Soyfer. Und die Jura Soyfer Gesellschaft hat aus der Armut heraus diese Grundlage geschaffen. So wie es auch das „arme Theater“ des Jura Soyfer war, das Weltgeltung erlangt hat – im Gegensatz zu jenen Autoren (des Burgtheaters), deren Verbreitung mit viel Geld betrieben wurde. Es verbleiben Monumente, die ich als Schande begreife, wie das Franz-Nabl-Institut in Graz, in der Stadt der Volkserhebung, die heute von einer kommunistischen Bürgermeisterin regiert wird.
Präsentiert wurde diese Installation im Kontext von Leipzig im Rahmen der Rusener Gespräche 2023 deshalb, weil das Projekt Rusener Gespräche in einem neuen Format Theater, Sprachen, Literaturen, Künste neu in den Mittelpunkt einer neuen Öffentlichkeit stellen könnte.
Herbert Arlt